Wir sind zu Besuch bei Julia Henning in Wuppertal, die in diesem Jahr ein neues Herz erhielt. Ihre Wohnung haben sie und ihr Freund erst vor Kurzem bezogen, eine Dachgeschosswohnung in einer umgebauten alten Mühle. Die Schuhe ziehen wir an der Wohnungstür aus – reine Vorsichtsmaßnahme, um möglichst wenig Dreck und Keime in die Wohnung zu schleppen. Wir haben mit Julia über ihr altes und ihr neues Herz gesprochen und uns über einen ganz schön schweren Defibrillator gewundert.
Lebensritter: Frau Henning, Sie wurden am 11. Mai 2022 operiert und haben ein neues Herz erhalten. Wie kam es dazu?
Julia Henning: Ich wurde mit einem Loch im Herzen geboren. Das ist wohl normal, bei mir hat es sich aber später geschlossen als üblich – was für meine Herzprobleme aber völlig irrelevant war. [Anmerkung Lebensritter: Vor der Geburt hat jeder Mensch ein Loch in der Vorhofscheidewand, das sogenannte Foramen ovale. Kurz nach der Geburt verschließt sich das Loch von allein.]
Trotzdem musste ich deshalb regelmäßig beim Kinderarzt vorstellig werden, der auch gleichzeitig Kinderkardiologe war – ein Glück, wie sich später herausstellen sollte.
Lebensritter: Warum?
Julia Henning: Ich war 11 Jahre alt, als meine Mutter meinte, ich hätte mich verändert, wäre total schlapp. Ich selbst habe das gar nicht bemerkt, ich fühlte mich wie immer.
Meine Mutter dachte an Eisenmangel oder so etwas. Beim Arzt wurde ich dann medizinisch auf den Kopf gestellt und komplett durchgecheckt, inklusive EKG. Dabei fand man ein paar Extrasystolen, die aber nicht gefährlich waren. [Anmerkung Lebensritter: Extrasystolen sind Herz-Extraschläge, die – wenn überhaupt bemerkt – meist als Herzstolpern oder Herzaussetzer wahrgenommen werden.]
Etwa ein Jahr später hatte ich aber sehr viele Extrasystolen hintereinander und damit kam die Diagnostik ins Rollen.
Lebensritter: Was bedeutete das?
Julia Henning: Ich war in verschiedenen Krankenhäusern, denn eine Kinderkardiologie gibt es nicht an jeder Ecke. Aber auch die konnten keine direkte Ursache finden. Es war klar, dass nichts klar ist. Meine Verdachtsdiagnose lautete Kardiomyopathie, also eine Herzmuskelerkrankung, und eine damit einhergehende Herzschwäche sowie Herzrhythmusstörungen.
„Ich war in verschiedenen Krankenhäusern, denn eine Kinderkardiologie gibt es nicht an jeder Ecke. Aber auch die konnten keine direkte Ursache finden. Es war klar, dass nichts klar ist.“
Lebensritter: Können Sie sich noch konkret an diese Zeit erinnern?
Julia Henning: Nein, an vieles erinnere ich mich nicht mehr, aber an mein erstes MRT dafür noch genau. [Anmerkung Lebensritter: Die Magnetresonanztomographie (MRT) – auch als Kernspintomographie oder MRI bezeichnet – ist ein diagnostisches Verfahren zur Erzeugung von detaillierten Schnittbildern des menschlichen Körpers in hoher Auflösung. Mithilfe der MRT-Bilder können Struktur und Funktion von Organen, Geweben und Gelenken beurteilt und somit mögliche Erkrankungen medizinisch diagnostiziert werden.]
Der Arzt, mit dem wir die Untersuchungsergebnisse besprachen, war kein Kinderarzt, sondern ein Arzt für Erwachsene. Er verwendete viele Fachbegriffe und sagte, ich müsse sofort mit dem Sport aufhören, dürfte mein Zimmer nicht mehr aufräumen und den Müll nicht mehr wegbringen – mich also körperlich überhaupt nicht mehr anstrengen. Ich war total geschockt.
Mein Kinderkardiologe konnte später jedoch einiges wieder relativieren. Er beschrieb das Ganze mit anderen Begriffen und erklärte vieles kindgerechter. Das Schlimmste war für mich in dem Moment aber nicht die eigentliche Diagnose, es waren die Folgen. Ich durfte keinen Sport mehr machen! Dabei hatte ich mich doch für die Taekwondo-Prüfung angemeldet und ein halbes Jahr darauf hintrainiert – ich wollte doch unbedingt meinen nächsten Gürtel. Damit war es vorbei. Und mit dem Schulsport auch.
Stattdessen standen jetzt Arztbesuche und Medikamente auf dem Stundenplan. Zweimal im Jahr musste ich ins Krankenhaus, ich bekam Betablocker und habe hierdurch eigentlich wenig von den Herzrhythmusstörungen bemerkt.
2018 machte ich dann mein Abi und begann mit dem Studium in Düsseldorf: Sozialarbeit/Sozialpädagogik.
Lebensritter: Wie ging es danach weiter?
Julia Henning: Ein Jahr später gingen die Beschwerden richtig los. Meine Herzschwäche schritt immer weiter fort und ich wurde immer schlapper. Es gab nicht den einen Punkt, an dem es schlimm wurde, es war eher ein schleichender Prozess, den man nicht so richtig wahrnimmt. Irgendwann aber verspürte ich Herzrasen und wurde daraufhin in die Uniklinik Düsseldorf eingewiesen – hier ging die Diagnostik noch mal von vorne los.
Das Ärzteteam bestätigte die ventrikuläre Tachykardie, also meine Herzrhythmusstörungen. Außerdem stellte man fest, dass die Narbe, die ich am Herzen hatte, nicht zum Krankheitsbild passte. Es kann zum Beispiel sein, dass ich mit 11 Jahren einen Herzinfarkt gehabt hatte, der nicht bemerkt worden war, und dass sich hierdurch eine Narbe gebildet hat. Dieser Verdacht wurde im späteren Verlauf jedoch wieder verworfen.
Wir erfuhren aber zudem, dass ein Gendefekt die Ursache für meine Herzerkrankung war – obwohl sich die Narbe an meinem Herzen auch damit nicht abschließend erklären ließ. Die Diagnose half mir und meiner Familie aber in jedem Fall bei der Frage, ob wir irgendetwas hätten anders machen können oder vielleicht sogar an meiner Krankheit schuld waren – zum Beispiel, weil wir einen Infekt nicht bemerkt hatten und dieser verschleppte Infekt zu einer Herzmuskelentzündung geführt hatte. Auf diese Fragen erhielten wir zum Glück endlich Antworten.
„Wir erfuhren aber zudem, dass ein Gendefekt die Ursache für meine Herzerkrankung war – obwohl sich die Narbe an meinem Herzen auch damit nicht abschließend erklären ließ.“
Lebensritter: Und konnte man irgendetwas gegen Ihre starken Beschwerden tun?
Julia Henning: Ja, zunächst einmal wurden meine Medikamente umgestellt – ich musste noch mehr Tabletten einnehmen als zuvor und wurde enger überwacht. In Absprache mit den Ärzten konnte ich Reha-Sport machen. Aber die Auswirkungen meines schwachen Herzens zeigten sich jetzt auch im Alltag deutlich: Ich hatte wenig Kraft und bekam nur schwer Luft. Treppen steigen war nicht einfach, Berge hochspazieren auch nicht – und das zu vermeiden ist im bergigen Wuppertal natürlich schwer.
2020 wurde bei mir ein Langzeit-EKG durchgeführt. Zu dieser Zeit sprachen wir auch erstmals darüber, mir einen Defibrillator einzusetzen.
Lebensritter: Wozu ist denn ein Defibrillator da? Was bewirkt er eigentlich?
Julia Henning: Im Grunde handelt es sich um einen Elektroschocker. Das Gerät überwacht den Herzrhythmus und stellt bei Bedarf durch einen elektrischen Impuls den normalen Rhythmus wieder her. Ich hatte einen subkutanen Defibrillator, also einen, der auf der linken Seite der Brust neben dem Brustkorb implantiert wird.
Damit wir ein besseres Bild von diesem Defibrillator bekommen, zeigt Julia Henning ihn uns. Sie wollte ihn unbedingt behalten. Schon eindrucksvoll – etwa handtellergroß und schwer wie ein großes Smartphone. Ein ordentliches Ding!
Der Defibrillator hat mir zweimal das Leben gerettet. Das erste Mal am 16. März 2022, das zweite Mal am 24. April 2022. Ich habe vor Schreck laut geschrien, als ich geschockt wurde, und ja, es hat auch weh getan. Es ist deutlich schlimmer als ein Stromschlag, den man beispielsweise bekommt, wenn man an einen Elektrozaun packt. An diesem 24. April 2022 hatte ich Herzrasen und rief den Notarzt.
Noch während ich untersucht wurde, kam der Schock. Ich wurde in die Uniklinik Düsseldorf gebracht und bei Eurotransplant direkt als high urgency, also hochdringlich gelistet. Auf der Warteliste für ein Spenderherz stand ich aber schon länger, die Listung erfolgte nach meinem ersten Schock.
„Der Defibrillator hat mir zweimal das Leben gerettet.“
Lebensritter: Wie kann man sich das vorstellen? Wird man einfach auf eine Liste gesetzt?
Julia Henning: Nein, man redet vorher darüber. Sieben Ärzte kamen in mein Zimmer, ich lag im Bett und sie sagten: „Frau Henning, wir würden Sie gerne listen.“ Ich habe es immer als ein Zeichen von Respekt empfunden, dass sich sieben Ärzte aus unterschiedlichen Abteilungen die Zeit nahmen, um mit mir zu sprechen.
Man hört ja oft, dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patient schwierig ist, aber dort lief das echt toll. Und für mich war die Antwort auch eindeutig: Ja, ich wollte auf die Liste. Ich wollte doch unbedingt, dass es mir besser geht.
Mit 21 Jahren durfte ich nicht allein sein, konnte kaum noch schlafen und hatte die Gewissheit, dass sich mein Zustand ohne ein neues Herz nicht verbessern, sondern definitiv verschlechtern wird. Die HU-Listung, also als „high urgent“ bzw. „hochdringlich“, wurde aber abgelehnt. Dafür ging es mir noch nicht schlecht genug. Ich konnte erstmal wieder nach Hause.
Dort bekam ich aber den zweiten Schock und wurde somit zwei Wochen später doch auf die HU-Liste aufgenommen.
Lebensritter: Mussten Sie lange auf ein neues Organ warten?
Julia Henning: Nur 13 Tage. Ich habe mit einer viel längeren Wartezeit gerechnet. Mein Ziel war es, zum Abiball meines Bruders im nächsten Jahr, also 2023, gehen zu können. Der Plan scheint zu funktionieren.
Lebensritter: Wie sieht Ihr Alltag heute aus?
Julia Henning: Zweimal pro Woche steht Physiotherapie, also medizinische Fitness am Gerät, auf dem Plan. So langsam kehrt Normalität ein. Nachdem ich das erste Mal geschockt wurde, durfte ich ja nicht einmal mehr Auto fahren.
Jetzt kann ich wieder selbstständiger sein. Mental und körperlich muss ich fit werden, deshalb habe ich auch ein Urlaubssemester wegen Krankheit eingelegt. Mit meiner Bachelorarbeit werde ich dann im Sommersemester 2023 beginnen.
„So langsam kehrt Normalität ein. Nachdem ich das erste Mal geschockt wurde, durfte ich ja nicht einmal mehr Auto fahren. Jetzt kann ich wieder selbstständiger sein.“
Lebensritter: Wie sieht Ihre medizinische Nachsorge aus?
Julia Henning: Ich muss natürlich eine Menge Medikamente nehmen, das ist lebenswichtig. Bei meinem Hausarzt wird einmal pro Woche Blut abgenommen und alle drei Monate fahre ich zur Kontrolle in die Uniklinik nach Düsseldorf.
Ich weiß, dass Prof. Boeken als Leiter des Transplantationsprogramms am Universitätsklinikum Düsseldorf immer über meinen aktuellen Zustand informiert wird – auch wenn er bei den Untersuchungen nicht dabei ist. Von daher ist es immer ein gutes Zeichen, wenn ich ihn nicht sehe. Käme er dazu, wäre bestimmt etwas nicht in Ordnung …
Lebensritter: Wie gehen Sie mit dem Thema Organspende um? Ist das für Sie etwas Privates oder sprechen Sie in der Öffentlichkeit darüber?
Julia Henning: Ich spreche bei jeder Gelegenheit darüber. Vor vier Jahren habe ich auf Instagram damit begonnen, auf das Thema aufmerksam zu machen. Ich gebe Interviews und versuche aufzuklären. Im privaten Umfeld spreche ich auch viel darüber. Bei der Physiotherapie habe ich sogar letztens Ausweise verteilt, weil keiner einen hatte.
Julia Henning macht außerdem im Rahmen der Kampagne #DüsseldorfEntscheidetSich auf das wichtige Thema Organspende aufmerksam.
Lebensritter: Und was ist, wenn sich jemand gegen Organspende ausspricht?
Julia Henning: Ich finde es okay, unter der Voraussetzung, dass sich jemand gut informiert und eine Meinung gebildet hat. Ein Nein zur Organspende kann ich nicht akzeptieren, wenn das Nein auf Mythen und Halbwissen basiert.
Deshalb ist Aufklärung so wichtig. Meiner Meinung nach sollte man schon in der Schule damit beginnen. Oder auch in Arztpraxen. Die Leute haben zu wenige Berührungspunkte, wissen zum Beispiel nicht, wo sie einen Organspendeausweis kriegen können. Und leider müssen wir ja auch mit der menschlichen Faulheit kämpfen – den Organspendeausweis auszufüllen dauert nur zwei Minuten, aber das ist oft schon zu viel.
Als betroffene Person sehe ich auch die Politik in der Verantwortung. Deutschland gehört zum Eurotransplant-Verbund. Es geht um Geben und Nehmen. Deutschland ist in diesem Verbund das einzige Land, in dem es die Widerspruchslösung nicht gibt, alle anderen Länder haben sie. Wir erhalten Spenderorgane von überall her, können aber so gut wie keine abgeben. Und wieder einmal muss sich eine betroffene Minderheit einsetzen – das ist nicht richtig!
Lebensritter: Was wünschen Sie sich in Bezug auf das Thema Organspende?
Julia Henning: Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mit dem Thema auseinandersetzen und sich eine persönliche Meinung über Organspende bilden. Und wenn man etwas nicht weiß, sollte man Fragen stellen. Es gibt viele gute Fragen. Ich selbst finde zum Beispiel Fragen spannend wie: Fühlst du dich anders? Hast du Eigenschaften der Spenderin bzw. des Spenders übernommen?
Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Aber natürlich habe ich mich verändert – durch meine Erlebnisse und meine Erfahrungen. Und auf die Frage, ob ich mich anders fühle, kann ich ganz konkret antworten: ja! Ich habe einen Blutdruck! Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber durch meine Herzerkrankung hatte ich ja fast keinen. Mir war immer kalt, die Wärmflasche war mein bester Freund.
Lebensritter: Was sind Ihre nächsten Schritte?
Julia Henning: Wenn die Grippewelle vorbei ist, werde ich voraussichtlich im März wieder mit meiner Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe beginnen. Ich betreue Kinder unterschiedlichen Alters.
Was ich denen sagen werde, weiß ich noch nicht, da müssen wir uns im Team noch beraten. Kann ich einer Vierjährigen erzählen, dass ich ein neues Herz bekommen habe?
Lebensritter: Was war das Schlimmste in der Zeit vor der Transplantation?
Julia Henning: Weil ich so schwach war, konnte ich zum Beispiel die ganzen Schulausflüge nicht immer mitmachen und nur eingeschränkt auf Partys gehen oder Freunde besuchen. Ich musste immer sehr auf meinen Körper achten. Das war für mich dann aber auch normal und ich habe nicht weiter darüber nachgedacht oder mich besonders damit beschäftigt – es ist ja auch müßig in so einer Situation.
Ich hatte keinen normalen Alltag: Ich konnte nicht Auto fahren, durfte eigentlich nie allein sein.
Lebensritter: Und was ist jetzt nach der Transplantation das Beste?
Julia Henning: Ich kann wieder träumen. Ich kann mir etwas wünschen und es besteht die realistische Chance, dass mein Wunsch in Erfüllung geht – Urlaub, Sport, all das, was vor Kurzem noch undenkbar war. Ich muss mir keine Gedanken darüber machen, in welchem Stockwerk meine Freunde wohnen – jetzt kann ich drei Etagen hochgehen und auch wieder runter. Einfach all die Dinge, die für gesunde Menschen ganz selbstverständlich sind.
„Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mit dem Thema auseinandersetzen und sich eine persönliche Meinung über Organspende bilden.“
Hier spricht Julia Henning im Videointerview mit den Lebensrittern.