Menschen

Wir sind doch eine Solidargemeinschaft!

Das Thema Organspende ist im Moment aktueller denn je. Jens Spahns Vorschlag zur Widerspruchslösung sorgt für Diskussionen in den Medien, es wird viel berichtet über Menschen, die ein Spenderorgan erhalten und damit eine zweite Chance bekommen haben. Aber wie sehen das die Ärzte und Transplantationsbeauftragten in den Krankenhäusern? Wir haben uns mit Dr. med. Deniz Özcan, der seit sechs Jahren als Transplantationsbeauftragter tätig ist, und mit Dr. Hilal Yahya, bereits seit 15 Jahren Transplantationsbeauftragter, verabredet. Bevor wir mit unserem Interview beginnen konnten, wurde Dr. med. Özcan allerdings in den OP gerufen. Deshalb haben wir mit Dr. Yahya allein gesprochen.

Lebensritter: Herr Dr. Yahya, als was sind Sie am Evangelischen Krankenhaus Duisburg-Nord tätig?

 

Dr. Yahya: Ich bin Oberarzt der Neurochirurgie und, wie auch Dr. med. Deniz Özcan, Transplantationsbeauftragter.

 

Lebensritter: Wie wird man Transplantationsbeauftragter?

 

Dr. Yahya: Zum Transplantationsbeauftragten wird man benannt. Jeder Intensivmediziner kann theoretisch Transplantationsbeauftragter werden, man braucht allerdings eine Zusatzqualifikation.

Lebensritter: Was genau ist die Aufgabe eines Transplantationsbeauftragten?

 

Dr. Yahya: Ich bin dafür zuständig, potentielle Spender zu identifizieren, also Patienten zu beobachten, bei denen ein Hirntod eintreten könnte. Das sind Patienten, bei denen eine schwere Hirnschädigung vorliegt und ein tödlicher Verlauf absehbar ist oder bereits der Verdacht auf Hirntod besteht.

Denn nur wenn der Hirntod zweifelsfrei festgestellt wird, können Organe gespendet werden. Das bedeutet für mich, dass ich die betreffenden Patienten sehr genau beobachten und mich sehr intensiv um sie kümmern muss. Mit der eigentlichen Organentnahme und der Transplantation habe ich nichts mehr zu tun – so gesehen bin ich eigentlich eher ein Organbeauftragter als ein Transplantationsbeauftragter.

„Ich bin dafür zuständig, potentielle Spender zu identifizieren, also Patienten zu beobachten, bei denen ein Hirntod eintreten könnte.“

Lebensritter: Was passiert, wenn bei einem Patienten der Hirntod festgestellt wurde?

 

Dr. Yahya: Kommt nach der ersten Einschätzung aus medizinischer Sicht eine Organspende in Betracht, wird mit den Angehörigen das Thema Organspende besprochen. Liegt ein Organspendeausweis vor, ist es einfach. Auch wenn der Verstorbene zu Lebzeiten offen über das Thema gesprochen hat, ist alles klar. Liegt solch eine Erklärung aber nicht vor, müssen die Angehörigen entscheiden. Ausschlaggebend ist dabei, den Willen der verstorbenen Person zu ermitteln. Das ist ein schwieriger Prozess, denn die Angehörigen sind ja in einer extrem belastenden Situation.

Was ganz wichtig ist: Die Angehörigen entscheiden nicht über Leben oder Tod – der Mensch ist hirntot, da gibt es keine Fragen mehr. Die Frage lautet anders: Was ist der erklärte Wille des Toten? Dabei ist es wie beim Testament – wenn drinsteht, Emma soll das Klavier erben, können die Angehörigen nicht sagen: „Nö, das sehen wir aber ganz anders, das Klavier bekommt Paul.“ Lässt sich der Wille nicht ermitteln, stellt sich die Frage nach dem gemutmaßten Willen.

Dazu befragen wir Ehepartner, Kinder und andere Personen. Erst wenn der mutmaßliche Wille des Verstorbenen nicht zu ermitteln ist, entscheiden die Angehörigen nach ihren eigenen Vorstellungen. 
Wird eine Entscheidung für die Organspende getroffen, informiere ich die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), die dann den weiteren Prozess der Organspende einleitet.

„Die Angehörigen entscheiden nicht über Leben oder Tod – der Mensch ist hirntot, da gibt es keine Fragen mehr.“

Lebensritter: Stimmt es, dass es theoretisch genügend Spender gibt, aber nicht genügend Kapazitäten in den Krankenhäusern?

 

Dr. Yahya: Neueste Zahlen zeigen: 9 von 10 Menschen sind der Organspende gegenüber positiv eingestellt, aber nur 1/3 hat einen Ausweis – und da sind ja auch die mit drin, die auf dem Ausweis „Nein“ angekreuzt haben, tatsächlich sind es also noch weniger. Wir haben also zu wenig Spender.

Dazu kommt, dass nicht genügend potentielle Organspender in den Krankenhäusern identifiziert werden. Es bringt nichts, immer wieder einen neuen Sündenbock zu benennen: Mal sind die Ärzte schuld, dann wieder die Menschen, die nicht spenden wollen, dann sind es die Krankenhäuser, und natürlich auch wir Transplantationsbeauftragten – von uns sagt man übrigens, dass wir nie Zeit hätten. Aber es hängt alles zusammen, das eine beeinflusst das andere.

Lebensritter: Müssen Sie über Organspende eigentlich noch aufklären oder wissen die Menschen darüber Bescheid?

 

Dr. Yahya: Ich glaube, es gibt Aufklärung genug. Man erhält – wenn man will! – weitaus mehr Infos zum Thema Hirntod und Organspende als zum Beispiel zur Sexualkunde. Wenn man die BZgA [Anm. Lebensritter: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung] oder die DSO kontaktiert, bekommt man jede Menge Material. Die machen wirklich einen tollen Job – wie übrigens alle Hilfsorganisationen.

Aber, und das ist ein ganz großes Aber: Erkenntnis führt nicht zwangsläufig zu Bewusstsein oder Handeln, Faktenwissen führt nicht automatisch zu einem veränderten Verhalten. Selbst wenn ich also genauestens über die Organspende Bescheid weiß, heißt das noch lange nicht, dass ich auch Organspender werde.

 

Lebensritter: Kann man das „Nein“ zur Organspende eigentlich an einer Personen- oder Altersgruppe festmachen?

 

Dr. Yahya: Nein, das zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten, Altersgruppen und Religionen.

Lebensritter: Haben Sie Verständnis für die Angehörigen, die „Nein“ sagen?

 

Dr. Yahya: Ich bin leidenschaftslos, wenn jemand nicht spenden möchte oder für den Angehörigen so entscheidet. Ich kann und möchte niemanden zu etwas zwingen, ich kann nur hinweisen und beraten. Wenn zum Beispiel jemand, der an der Halswirbelsäule operiert wurde und so gerade an der Querschnittslähmung vorbeigerutscht ist, kurz nach der OP draußen vor der Kliniktür steht und eine Zigarette nach der anderen raucht, da kann ich auch nur sagen: Hallo, das ist jetzt nicht so ratsam. Verbieten kann ich das nicht.

Mir als Transplantationsbeauftragtem ist Klarheit wichtig – ja oder nein. Die Angehörigen sagen leider oft „sicherheitshalber“ erstmal nein, ohne darüber nachzudenken.

 

Lebensritter: Was kann man tun, um so eine Situation zu vermeiden?

 

Dr. Yahya: Momentan natürlich einen Organspendeausweis bei sich tragen und seinen nächsten Angehörigen seinen Willen kundtun. Das braucht auch nicht schriftlich dargelegt zu werden. Es reicht, wenn die Angehörigen wissen, wie sich der Betreffende zeitlebens zum Thema Organspende ausgesprochen hat. Man sollte aber auch eines bedenken: Wenn jemand ohne Organspendeausweis Deutschland verlässt, ist er in jedem Land um uns herum automatisch Organspender!

„Ich bin leidenschaftslos, wenn jemand nicht spenden möchte oder für den Angehörigen so entscheidet. Ich kann und möchte niemanden zu etwas zwingen, ich kann nur hinweisen und beraten.“

Lebensritter: Wie stehen Sie zu der momentan diskutierten Widerspruchslösung?

 

Dr. Yahya: Das ist für mich die beste Lösung. Ich finde es durchaus zumutbar, aktiv eine Entscheidung zu treffen. Das tut nicht weh und ist relativ einfach – einfacher als zum Beispiel die Entscheidung, ob ich jetzt Vegetarier, Veganer oder Frutarier werden möchte. Wir können und müssen uns mit der Frage beschäftigen. Ich muss mich doch auch damit beschäftigen, ob ich beispielsweise zum Bund gehe, ob ich eine Ausbildung mache oder ob ich studiere – und eine Entscheidung treffen! Für mich gibt es keine Alternative zur Widerspruchslösung. 

Ich glaube, das Recht, sich nicht zu entscheiden, ist eine Anspruchshaltung, die falsch ist. Es gibt so viele Situationen, in denen ich mich entscheiden muss: zum Beispiel vorm Altar. Da kann ich auch nicht sagen: „Weiß nicht, mal sehen, vielleicht, ich will mich nicht entscheiden …“ Außerdem ist es unsere Bürgerpflicht. Wir sind doch eine Solidargemeinschaft!

 

Lebensritter: Und was sagen Sie Menschen, die Angst haben, nicht behandelt zu werden, weil sie glauben, „die wollen ja nur meine Organe“?

 

Dr. Yahya: Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn ich Organspender bin, beginnt eine viel intensivere Behandlung, da die Organe in einem Zustand gehalten werden müssen, der eine Transplantation überhaupt noch erlaubt. Die Sorge, dass man nicht oder weniger behandelt wird, um an Organe zu kommen, ist also unbegründet. Es ist so: Organspender = mehr Intensivmedizin, kein Organspender = weniger Intensivmedizin. 

In diesem Zusammenhang gibt es auch viele Spekulationen über den Hirntod. Manche glauben ja, man könnte noch mal aufwachen. Es gibt in der Geschichte der Medizin aber keinen einzigen Fall, in dem ein Mensch nach der Diagnose Hirntod wieder aufgewacht ist. Hirntod bedeutet, dass das Gehirn seine Funktionsfähigkeit für immer verloren hat. Das ist irreversibel, also nicht umkehrbar.

„Es gibt in der Geschichte der Medizin aber keinen einzigen Fall, in dem ein Mensch nach der Diagnose Hirntod wieder aufgewacht ist.“

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