Menschen

Wenn ich tot bin, fressen mich die Regenwürmer

Wenn man mit einem neuen Herzen lebt, kann einen so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen. Deshalb ist Simone Lafleur auch relativ gelassen, wenn sie über den aktuellen Hochwasserschaden am Haus spricht. Wir haben die Versicherungskauffrau in Solingen besucht und mit ihr über Organspende, Pläne und die Ostfriesischen Inseln gesprochen und waren erstmal sprachlos, als wir aus dem Wohnzimmerfenster geschaut haben.

Lebensritter: Oh, das sieht aber wüst aus …!

 

Simone Lafleur: Ja, das Wasser hat unsere ganze Terrasse weggerissen und den Garten zerstört. Wir durften die ersten Tage auch gar nicht in unsere Wohnung – die zum Glück nicht überflutet war –, aber die Statik des Hauses musste geprüft werden. Das war schon ein Schock, wir kamen ja auch gerade erst aus dem Urlaub zurück. Und da stand die Feuerwehr und sagte: „Dann nehmen Sie mal die wichtigsten Sachen mit, denn in Ihrer Wohnung dürfen Sie nicht bleiben!‟ Aber mich kann so schnell ja nichts mehr schocken …

 

Lebensritter: Warum brauchten Sie denn ein neues Herz?

 

Simone Lafleur: 2007 fing alles an und es ist auch nur dem Zufall zu verdanken, dass wir gemerkt haben, dass mit meinem Herzen etwas nicht stimmt. Ich hatte einen Termin bei meiner neuen Hausärztin. Die hat zum Glück, weil ich ja das erste Mal bei ihr war, einen kompletten Check-up gemacht. Dabei sind Unregelmäßigkeiten aufgefallen und sie hat mich zum Kardiologen geschickt. Bei den folgenden Untersuchungen, unter anderem auch mit einem Langzeit-EKG, wurden dann Herzrhythmusstörungen festgestellt.

„2007 fing alles an und es ist auch nur dem Zufall zu verdanken, dass wir gemerkt haben, dass mit meinem Herzen etwas nicht stimmt.“

Lebensritter: Haben Sie denn gar nicht gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

 

Simone Lafleur: Nein. Okay, ich war nicht so belastbar und auch nicht so fit, aber wenn man keinen Sport macht und das ein oder andere Kilo zu viel hat, macht man sich ja keine großen Gedanken, oder? Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich unter Herzrhythmusstörungen leide! Die Diagnose lautete DCM, dilatative Kardiomyopathie. Das ist eine zunehmende Herzleistungsschwäche, die mit Luftnot und immer geringer werdender körperlicher Belastbarkeit einhergeht. Mir wurde dann ein Defibrillator eingesetzt. Dieses Gerät hat Stromstöße ausgesendet, wenn mein Herz zu schwach war und es zu Kammerflimmern oder Aussetzern kam. Das war aber auch keine Lösung für immer. Seit 2009/2010 wusste ich aber, dass ich irgendwann ein neues Herz brauche.

 

Lebensritter: Wie sah denn Ihr Leben mit Herzrhythmusstörungen aus?

 

Simone Lafleur: Es ist mit der Zeit immer schlimmer geworden. Ich wurde schnell müde, der Stress im Büro tat mir nicht gut, ich habe es nicht mehr geschafft, Vollzeit zu arbeiten. Ich konnte keine Treppen mehr steigen, alles war anstrengend, ich habe nichts mehr machen können, bin nicht mehr rausgegangen. Wenn ich doch mal die Wohnung verlassen habe, mussten meine Kinder mich den Berg vorm Haus hochschieben, ich habe das aus eigener Kraft nicht mehr geschafft. Was man sonst so gerne macht – einkaufen, shoppen gehen … allein der Gedanke an die Anstrengung, in der engen Umkleidekabine etwas anzuprobieren, – man hätte mir die Klamotten schenken können, ich hätte es nicht gemacht. Im Sommer 2019 hat mein Defibrillator dann ganz deutlich reagiert. Das war ein Gefühl, als wenn ich an einen Elektrozaun gefasst hätte – fast im gleichen Moment hat mein Arzt auch angerufen, weil der Defibrillator die Daten ja direkt an die Praxis übermittelt, das ging ganz automatisch. Ich bin dann nach Bad Oeynhausen ins Herzzentrum gekommen, zur Untersuchung.

„Im Sommer 2019 hat mein Defibrillator dann ganz deutlich reagiert. Das war ein Gefühl, als wenn ich an einen Elektrozaun gefasst hätte.“

Lebensritter: War zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass Sie jetzt ein neues Organ brauchen?

 

Simone Lafleur: Für mich nicht. Aber nach der Untersuchung sagte der Arzt: „Sie bleiben hier, ohne ein neues Herz verlassen Sie die Klinik nicht mehr.‟ Und es kam noch besser – ich lag dann in meinem Bett, an Kabel angeschlossen, und wollte auf die Toilette. Ich hatte schon überlegt, wie ich den ganzen Kabelbaum mitnehmen könnte, aber die Schwestern sagten: „Nein, Sie dürfen gar nicht mehr aufstehen; nicht ins Badezimmer gehen oder sonst wohin, Sie müssen jetzt liegen bleiben.‟ Das Schlimme dabei ist ja, dass man nicht weiß, wie lange man in diesem Zustand bleiben muss, wann einem das Organ transplantiert wird …

 

Lebensritter: Können Sie Ihren Alltag im Krankenhaus beschreiben?

 

Simone Lafleur: Wenn meine Kinder zu Besuch gekommen sind, haben wir auf dem Bett gekuschelt und die Kabel irgendwie um uns herum drapiert, das ging alles irgendwie. Ich habe versucht, meinen Tag zu strukturieren. Das würde ich auch allen empfehlen, die in einer ähnlichen Situation sind, sonst werden die Tage einfach zu lang. Ich habe mir im Krankenhaus einen Plan erstellt. Das fing damit an, dass ich länger geschlafen habe – wenn man um 7 Uhr schon frühstückt, ist der Tag länger, als wenn man das erst um 9 Uhr macht! Dann habe ich feste Zeiten zum Telefonieren eingeplant, zum Fernsehgucken, zum Kuchenessen … Und beschäftigen muss man sich – ich habe angefangen, Steine zu bemalen. „Ich schenk‘ Dir mein Herz‟ stand zum Beispiel auf einem drauf. Den habe ich verschenkt. An einen kleinen Jungen, der auch auf ein Herz gewartet hat. Tja, und irgendwann stand dann der Arzt im Zimmer und sagte: „Wir haben ein Herz für Sie!‟ Am 12.10.2019, am Geburtstag meines Mannes, ist mir das Herz transplantiert worden.

„Dann habe ich feste Zeiten zum Telefonieren eingeplant, zum Fernsehgucken, zum Kuchenessen … Und beschäftigen muss man sich – ich habe angefangen, Steine zu bemalen.“

Lebensritter: Und die Transplantation ist gut verlaufen?

 

Simone Lafleur: Die OP ja, hat alles problemlos geklappt. Aber ich hatte so ein komisches Gefühl und sagte: „Da kommt bestimmt noch was …‟ Und ich hatte recht: Erst lief alles gut und ich konnte auch schon aufstehen. Aber zehn Tage nach der Transplantation bin ich vor meinem Bett zusammengebrochen – Wasseransammlung im Herzen. Ich musste ein zweites Mal operiert werden, alles wurde noch mal aufgemacht. Das tat so weh und es ging mir so schlecht – wenn man mich hätte einschläfern wollen, ich hätte zugestimmt! Mir war echt alles egal. Zum Glück ging es mir schnell wieder besser. Bis auf die Rückenschmerzen. Und was war? Ich hatte mir einen Rückenwirbel gebrochen. Wie? Keine Ahnung, ich habe das nicht bemerkt. Vielleicht beim Aufstehen, ich weiß es nicht. Das war echt blöd – jetzt hätte ich vom Herzen her wieder laufen können, nun ging′s vom Rücken her nicht. Aber irgendwann war auch das ausgestanden und ich konnte wieder nach Hause zu meiner Familie. Ach ja, und dann kam Corona!

 

Lebensritter: Hatten Sie dadurch zusätzliche Einschränkungen?

 

Simone Lafleur: Einschränkungen hatte ich ja sowieso als Transplantierte, ich musste schon vorher immer alles desinfizieren, einen Mundschutz tragen, Menschenmengen meiden … Aber jetzt konnte ich auch nicht zur Arbeit – im Büro mit den Kollegen und dem Publikumsverkehr, das ging ja nicht. Mein Chef ist toll, er hat mir dann ein Homeoffice eingerichtet. Wegen Corona passe ich natürlich auf, aber ich bin nicht panisch, ich bin zum Beispiel auch einkaufen gegangen. Ich kenne Transplantierte, die sind gar nicht mehr rausgegangen und haben sich auch Lebensmittel liefern lassen. Trotz aller Vorsicht kann etwas passieren. Es gab auch schon Herztransplantierte, die infiziert waren. Es haben aber zum Glück alle überlebt. Ich selbst bin schon doppelt geimpft. Ich habe aber noch keinen wirksamen Schutz aufgebaut, das liegt an den Immunsuppressiva, die ich wegen der Transplantation nehmen muss. Mal sehen, vielleicht wird es mit einer dritten Impfung besser.

Lebensritter: Wissen Sie eigentlich, wodurch Ihre Herzkrankheit ausgelöst wurde?

 

Simone Lafleur: Am wahrscheinlichsten ist eine verschleppte Erkältung oder eine erbliche Belastung. Man weiß es aber nicht. Zur Sicherheit gehen meine Kinder jetzt alle zwei Jahre zum Kardiologen und lassen sich durchchecken. Ich finde Vorsorge sehr wichtig, in allen Bereichen. Denn nur wenn man weiß, dass man etwas hat, kann man auch damit umgehen und die geeigneten Maßnahmen ergreifen.

 

Lebensritter: Haben Sie sich vor Ihrer Herzerkrankung eigentlich schon mit dem Thema Organspende befasst?

 

Simone Lafleur: Nicht im Detail, aber einen Organspendeausweis hatte ich eigentlich schon immer. Für mich war klar, dass ich meine Organe spenden würde. Wenn ich tot bin, fressen mich ja eh die Regenwürmer – da kann ich mit meinen Organen doch besser jemandem helfen. Obwohl ich nicht weiß, ob man nach der Transplantation noch etwas von mir nehmen würde. Meine Mutter hat jetzt auch einen Organspendeausweis ausgefüllt – mit 83 Jahren! Es ist wirklich nie zu spät dafür.

„Meine Mutter hat jetzt auch einen Organspendeausweis ausgefüllt – mit 83 Jahren! Es ist wirklich nie zu spät dafür.“

Lebensritter: Wie gehen Sie mit Menschen um, die gegen eine Organspende sind?

 

Simone Lafleur: Wenn sich jemand gegen die Organspende ausspricht, kann ich das nicht verstehen, muss es aber akzeptieren. Das ist bei Freunden natürlich besonders schwierig. Mein Mann hatte auch lange Zeit keinen Organspendeausweis, jetzt aber schon. Ich weiß, dass sich mindestens fünf Leute wegen meiner Geschichte einen Organspendeausweis besorgt haben. Das ist doch schon mal was! Ich bin auch ganz klar für die Widerspruchslösung. Jeder sollte sich über die Organspende Gedanken machen. Ich würde aber mit niemandem eine Diskussion anfangen – jeder sollte nur genau überlegen, wie es wäre, wenn er selbst mal in eine Situation kommt, in der er ein Organ braucht. Oder das eigene Kind!

 

Lebensritter: Wie geht es Ihnen heute?

 

Simone Lafleur: Gut. Mein Herz ist super, keine Probleme, keine Abstoßung, keine Rhythmusstörungen. Als wenn es für mich vorbestimmt gewesen wäre, dieses eine richtige Herz für mich. Mein altes Herz hat 49 Jahre gehalten, meinen 50. Geburtstag habe ich mit meinem neuen gefeiert.

Lebensritter: Hat sich für Sie etwas verändert?

 

Simone Lafleur: Ich akzeptiere viele Dinge. Die aktuelle Flutkatastrophe zum Beispiel. Das ist nun mal passiert. Man muss lernen, das Beste daraus zu machen. Und dankbar zu sein. Außerdem möchte ich jedes Jahr an meinem Geburtstag Urlaub machen – als Erstes nehmen wir uns jetzt die Ostfriesischen Inseln vor! Man kann nicht alles in seinem Leben beeinflussen, ich glaube an Schicksal, daran, dass der Lebensweg in irgendeiner Form vorherbestimmt ist. Ich mache jetzt alles viel bewusster. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, zum Beispiel durch einen Wald zu laufen. Oder Spaß zu haben. Umso mehr genieße ich es jetzt!

„Ich mache jetzt alles viel bewusster. Ich weiß, dass es nicht selbstverständlich ist, zum Beispiel durch einen Wald zu laufen.“

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

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