Menschen

Wenn das Herz auf der anderen Seite schlägt

Anne Tüscher hat schon so einiges erlebt. Geboren mit vertauschten Organen, als Kind eine Herztransplantation, als Jugendliche eine Nierentransplantation. Heute steht die junge Frau mit beiden Beinen im Leben. Wir haben sie kürzlich besucht.

Lebensritter: Frau Tüscher, bei Ihnen ist ja einiges anders als bei den meisten Menschen – und damit meinen wir jetzt gar nicht die Organtransplantationen …

 

Anne Tüscher: Stimmt. Ich bin mit vertauschten, sprich spiegelverkehrt angeordneten Organen zur Welt gekommen. Situs inversus nennt sich das. Das heißt, mein Herz sitzt zum Beispiel auf der rechten Seite und nicht wie bei anderen links.

 

Die verkehrte Anordnung meiner Organe ist zwar etwas Besonderes, aber nichts, worunter man leidet oder wodurch man krank wird – eher eine Laune der Natur. Trotzdem verhält man sich in einem solchen Fall natürlich vorsichtig. Deshalb war ich seit meiner Geburt einmal im Jahr zum Check beim Kardiologen, um mein Herz untersuchen zu lassen.

Lebensritter: Und es war immer alles in Ordnung? Oder gab es irgendwelche Anzeichen, dass mit Ihrem Herzen etwas nicht stimmt?

 

Anne Tüscher: Nein. Eigentlich schien bis zu meiner Herztransplantation alles in Ordnung zu sein. Ich war immer sehr sportlich – ich habe Fußball gespielt und war gerne reiten. Auch war ich schon in jungen Jahren äußerst selbstständig und habe als große Schwester gerne mal auf meinen Bruder aufgepasst.

 

Die jährlichen Vorsorgeuntersuchungen waren für mich nichts Besonderes, ich hatte mich ja seit meiner Geburt daran gewöhnt. Ich empfand es eher als interessant und spannend, mein Herz bei den Untersuchungen zu sehen. Und ich wusste: Meine Organe sind nicht typisch, aber gesund. Tja, und dann … Im Frühjahr war ich noch beim Routine-Check und im Sommer 2001 wurde ich krank, da war ich acht Jahre alt.

„Ich empfand es eher als interessant und spannend, mein Herz bei den Untersuchungen zu sehen.“

Lebensritter: Was ist passiert?

 

Anne Tüscher: In den Sommerferien fuhren wir in den Urlaub nach Bayern und ich wurde plötzlich krank. Ich fühlte mich gar nicht gut, hatte starke Magen-Darm-Beschwerden und wurde immer schwächer. Das ging so weit, dass ich noch nicht mal mehr eine Treppe steigen konnte.

 

Meine Eltern gingen dann mit mir zum Arzt und es stellte sich heraus, dass ich Wasser in der Lunge hatte und meine Leber vergrößert war. Wir sind natürlich abgereist und nach Hause gefahren, wo ich dann gleich meinen Hausarzt aufsuchte, der ja meine ganze Geschichte am besten kannte. Er hat mich sofort in die Kinderklinik überwiesen. Nach der Untersuchung stand fest, dass ich unter einer Herzmuskelentzündung litt. Ich kam direkt auf die Intensivstation. Nach zwei Wochen wurde meine Herzleistung zwar nicht besser, aber ich konnte zumindest von der Intensivstation auf eine normale Station verlegt werden. Eigentlich toll, aber für mich war das ein bisschen wie Einzelhaft. Ich musste ja alleine liegen, weil ich mir in meinem Zustand mit dem kranken Herzen keine Infektion einfangen durfte. Ich glaube, für ein Kind ist das noch mal schlimmer als für einen Erwachsenen.

Lebensritter: Wie ging es dann weiter?

 

Anne Tüscher: Ich musste erstmal im Krankenhaus bleiben und bekam einen Herzkatheter. Meine Familie hat natürlich versucht, mir mein Zimmer in dieser Zeit so wohnlich wie möglich zu gestalten, mit eigener Bettwäsche und Kissen. Ich habe von meiner Krankheit bzw. von dem Ernst der Lage nicht so viel mitbekommen, weil die Ärzte eher mit meinen Eltern sprachen als mit mir. Man muss ja bedenken, dass ich noch ein kleines Kind war.

 

Wir wollten es dann auch mal zu Hause versuchen, nach zwei Tagen musste ich aber wieder zurück in die Klinik, es ging einfach nicht.

 

Schließlich sagte man mir, dass sich mein Herz nicht mehr erholen wird. In der Herzklinik in Bad Oeynhausen wurde ich dann noch einmal ambulant untersucht. Nach dem Herzecho stand fest, dass ich sterben werde, wenn ich kein neues Herz bekomme. All das fühlte sich für mich total unreal an, wie in einem schlechten Traum.

 

Eine Transplantation war in meinem Fall deutlich komplizierter als bei anderen, da ich im Grunde ein spiegelverkehrtes Spenderherz benötigt hätte – also von einem Kind, das wie ich mit Situs inversus gelebt hatte. Die Wahrscheinlichkeit, ein solches Spenderorgan zu erhalten, wäre nahezu unmöglich geworden.

 

Mein Kardiologe nahm Kontakt zum Herzzentrum Berlin auf, dessen Transplantationsteam sich in der Lage sah, auch ein „normales“ Spenderherz zu transplantieren. Und so wurde ich kurze Zeit später von Köln nach Berlin geflogen. Dies war natürlich weit weg. Also teilten sich meine Eltern auf und besuchten mich immer im Wechsel. Denn einer der beiden musste sich schließlich auch um meinen Bruder kümmern, der ja erst fünf Jahre alt war. Am Tag der Transplantation waren aber beide an meiner Seite. Während ihrer Aufenthalte in Berlin konnten meine Eltern glücklicherweise im Ronald McDonald Haus wohnen.

 

[Anmerkung Lebensritter: Das Ronald McDonald Haus gehört zur McDonald’s Kinderhilfe, die sich seit 1987 für schwer kranke Kinder in Deutschland einsetzt. Die Stiftung betreibt bundesweit 22 Ronald McDonald Häuser in der Nähe von Kinderkliniken als ein Zuhause auf Zeit für die Familien der kleinen Patientinnen und Patienten.]

Lebensritter: Wie geht ein Kind mit einer solchen Situation um?

 

Anne Tüscher: Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass ich sterben könnte. Eher über andere Sachen, zum Beispiel darüber, welches Pony ich in meiner nächsten Reitstunde wohl reiten werde. Ich lag auf der Normalstation und manchmal war die ganze Familie zu Besuch, also auch mein Vater und mein Bruder.

 

Alles in allem hatte ich Glück: Ich stand nur eine Woche auf der Liste, dann erhielten wir schon den wichtigen Anruf. Operiert wurde ich schließlich am 27. November 2001. Dieses Datum werden wir in meiner Familie nie vergessen – mein Bruder hat es sich sogar tätowieren lassen.

„Dieses Datum werden wir in meiner Familie nie vergessen – mein Bruder hat es sich sogar tätowieren lassen.“

Lebensritter: Und die Operation verlief ohne Komplikationen?

 

Anne Tüscher: Zum Glück verlief der Eingriff ohne Komplikationen, auch wenn das neue Herz nicht direkt schlug. Ich musste noch einmal für kurze Zeit an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. Außerdem saß mein neues Herz nun auf der linken und nicht wie zuvor auf der rechten Seite. Also hatte man eine besondere Venenverlängerung aus Kunststoff eingebaut, damit die Anschlüsse auch passten.

 

Von der Operation selbst habe ich nichts mitbekommen. Kinder wurden bei einer so großen Operation im Herzzentrum Berlin für eine Woche ins Koma versetzt, damit der Schock beim Aufwachen nicht so groß ist.

 

Ich weiß noch, dass ich kurz vor Nikolaus aufgewacht bin und künstlich ernährt wurde – es gab die Geschmacksrichtungen Schoko und Erdbeere. Dann wurde der Beatmungsschlauch entfernt und ich erhielt einen Adventskalender.

 

Am 12. Dezember ging es dann in die Reha nach Teltow, wo ich Weihnachten und Silvester verbrachte.

Lebensritter: Wie lief es nach der Transplantation?

 

Anne Tüscher: Ich konnte ein normales Leben führen. Mein Körper vertrug die Tabletten gut, ich durfte wieder reiten gehen und habe zu meinem ersten Herzgeburtstag sogar ein eigenes Pony geschenkt bekommen.

 

Leider schädigten die Medikamente meine Nieren, aber zehn Jahre lebte ich ohne große Einschränkungen. Das spätere Nierenversagen kam nicht wirklich überraschend, wir hatten schon damit gerechnet. Meine Mutter ließ sich direkt testen und spendete mir schließlich eine Niere.

 

Die Transplantation war eigentlich erst nach meinem Abi geplant, aber in der 11. Klasse wurden meine Beine und mein Bauch plötzlich immer dicker. Zunächst ignorierte ich die Signale und wollte es nicht wahrhaben, denn ich war im Vor-Abi und eine OP passte überhaupt nicht zu meinen Plänen. Ich hatte einfach keine Zeit für „so etwas“.

 

Aber irgendwann ging es nicht mehr und dieser Moment kam im Januar. Ich wollte mit Freunden ins Kino gehen und schaffte es nicht mehr, die Treppen hochzusteigen.

Damit ihr Spenderherz nicht abgestossen wird, muss Anne Tüscher täglich Medikamente einnehmen.

Lebensritter: Lag das an den Nieren?

 

Anne Tüscher: Nein, ich kam in die Klinik und dort stellte man eine Abstoßungsreaktion des Herzens fest, meine Herzleistung betrug nur noch 25 Prozent. Was sich allerdings zuerst ereignete, das Nierenversagen oder die Abstoßungsreaktion, lässt sich nicht
sicher sagen.

 

Ich wurde jedenfalls im Krankenwagen nach Berlin gefahren und dort mit Cortison behandelt. Wegen der Nieren kam ich direkt an die Dialyse. Zu Hause ging es weiter: In der Zeit von 8 bis 14 Uhr bin ich zur Schule gegangen und dreimal pro Woche dann im Anschluss gleich zur Dialyse.

 

Zum Glück ging es meinem Herzen wieder besser. Am 27. Juli 2011 – das war in den Sommerferien – wurde mir dann die Niere meiner Mutter transplantiert. Damals war ich 17 Jahre alt.

Lebensritter: Und heute? Wie sieht Ihr Alltag aus mit zwei transplantierten Organen?

 

Anne Tüscher: Nach dem Fachabitur habe ich eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolviert und später dann noch berufsbegleitend Wirtschaftspsychologie studiert.

 

Heute arbeite ich als Personalsachbearbeiterin in einem internationalen IT-Unternehmen und wie viele andere in Corona-Zeiten momentan hauptsächlich im Homeoffice.

 

Wenn man meinen Lebenslauf betrachtet, sieht zunächst alles normal aus: Schule, Ausbildung, Studium, Beruf und keine großen Lücken.

 

Lebensritter: Was gibt Ihnen in den schwierigeren Zeiten Kraft?

 

Anne Tüscher: Reiten hat mir immer sehr viel Kraft gegeben. Das würde ich auch anderen Menschen raten, die in einer ähnlichen Lage sind, wie ich es damals war: Macht das, was euch guttut, denn daraus kann man die Kraft schöpfen, die man in einer solchen Situation unbedingt braucht.

Lebensritter: Teilen Sie Ihre Geschichte oft mit anderen?

 

Anne Tüscher: Ja, ich möchte anderen mit meinen Erfahrungen helfen. Vor Corona habe ich mich zum Beispiel bei der Studenteninitiative Aufklärung Organspende Aachen engagiert. Wir waren hauptsächlich in Schulen unterwegs, wo ich meine Geschichte erzählen und Fragen beantworten durfte.

 

Weil ich zur Zeit meiner Transplantation noch ein Kind war, habe ich mir wenig Gedanken gemacht – es war halt so, das war mein Leben, mein Alltag. Heute weiß ich natürlich, dass es sich um eine ganz besondere Lebenserfahrung handelt. Und wenn ich anderen mit meiner Geschichte helfen kann oder das Thema Organspende näherbringen kann, ist das sehr schön.

Lebensritter: Das Thema Organspende wird viel diskutiert – wie sehen Sie das Ganze als Betroffene?

 

Anne Tüscher: Ich habe Verständnis für Menschen, die ihre Organe nicht spenden wollen.

 

Grundsätzlich finde ich aber, dass jeder sich zumindest einmal mit dem Thema beschäftigen sollte. Allerdings halte ich nichts davon, Organspende zur Pflicht zu machen. Organe sollte man aus Überzeugung spenden, aus vollem Herzen heraus.

„Organe sollte man aus Überzeugung spenden, aus vollem Herzen heraus.“

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

Kontaktieren Sie uns gerne direkt unter kontakt@lebensritter.de.