Der 48-jährige Reiner Heske aus Wiehl im Oberbergischen hat sich ganz nach vorne durchgekämpft. Seit seiner Kindheit leidet er an Mukoviszidose, wurde im Sportunterricht – wenn er überhaupt teilnehmen konnte – von seinen Mitschülern immer als Letzter in die Mannschaft gewählt und konnte zeitweise ohne Sauerstoff noch nicht mal mehr unter der Dusche stehen. Heute rennt er allen davon, läuft einen Marathon nach dem anderen und umrundet auch schon mal eine Insel. Und das alles mit einer Spenderlunge.
Lebensritter: Herr Heske, wie kommt man darauf, mit einer transplantierten Lunge ausgerechnet den Marathonlauf zu seiner Lieblingssportart zu erklären?
Reiner Heske: Weil ich es früher nicht konnte! Okay, da kommen natürlich noch ein paar andere Gründe hinzu, sogar ein ärztlicher Rat. Nach meiner Transplantation war ich drei Wochen im Krankenhaus, dann drei Wochen in der Reha in Fallingbostel. Die Ärzte sagten, man soll die Lunge belüften, damit sie sich richtig entfalten kann – also habe ich mit dem Nordic Walking angefangen und mich einfach den ganz normalen, gesunden Leuten im Park angeschlossen. Es hat mir gefallen, es hat mir richtig gutgetan. Zuhause habe ich mir als Erstes Walking-Stöcke besorgt. Und irgendwann bin ich einfach immer schneller geworden – meine damalige Freundin kam gar nicht mehr mit, sie war regelrecht neidisch. Ich hatte einen richtigen Bewegungsdrang und zeitweise sogar Muskelkater in den Fußsohlen. So hat sich das Laufen mit der Zeit immer weiterentwickelt. Meinen ersten offiziellen 10-km-Lauf rund um die Aggertalsperre habe ich in 56 Minuten geschafft.
„Ich hatte einen richtigen Bewegungsdrang und zeitweise sogar Muskelkater in den Fußsohlen.“
Lebensritter: Mal abgesehen vom Sport – was hat sich durch die Transplantation in Ihrem Leben noch verändert?
Reiner Heske: Eigentlich alles. Das Leben mit Mukoviszidose [Anm. Lebensritter: Mukoviszidose ist eine angeborene Stoffwechselkrankheit, die unter anderem die Funktion der Lunge beeinträchtigt] ist ja sehr eingeschränkt. Als ich vier Jahre alt war, wurde die Krankheit bei mir diagnostiziert. Meinen Eltern wurde gesagt, dass ich das Erwachsenenalter nicht erreichen würde.
Lebensritter: Wie haben Ihre Eltern nach der Diagnose reagiert?
Reiner Heske: Sie haben versucht, die Krankheit von mir fernzuhalten und mich so normal wie möglich aufwachsen zu lassen. Trotzdem war meine Kindheit natürlich von Therapien geprägt, mehrere Stunden am Tag, alles war voll durchstrukturiert. Ich habe schnell schlapp gemacht, war nicht so leistungsfähig wie die anderen Kinder, deshalb bin ich ja auch beim Schulsport immer als Letzter gewählt worden. Ich habe zwar immer versucht, mit den anderen mitzuhalten, aber das ging einfach nicht. Ich wusste gar nicht genau, woran ich leide, dachte immer, das wäre Bronchitis. Erst mit 15 Jahren habe ich erfahren, was es wirklich war – durch einen Zeitungsbericht, den ich in der Mülltonne gefunden habe. Heute kann ich alles machen, was ich will. Es gibt natürlich ein paar Einschränkungen, aber das ist alles kein Vergleich zu früher.
Lebensritter: Warum ist eine Transplantation notwendig gewesen? Hätten Sie mit Ihrer geschädigten Lunge, täglichen Therapien und Medikamenten weiterleben können?
Reiner Heske: Ganz klar: nein. Als ich 25 war, kam das erste Mal das Thema Organspende beziehungsweise neue Lunge auf, ich habe das aber vor mir hergeschoben. Es ging ja auch so: Ich habe immer inhaliert, ich war ein richtiger Inhalations-Junkie. Anfang 2012 hatte ich eine Zyste am Pankreas [Anm. Lebensritter: Bauchspeicheldrüse] und es kam zu Komplikationen bei der Operation – ich lag sechs Wochen auf der Intensivstation, hatte vier Vollnarkosen, einen Darmverschluss und einen offenen Gallengang. Ich hatte keine Kraft mehr, bin total abgemagert, war mit Morphium vollgepumpt und habe nur noch gelallt.
Lebensritter: Wie ging es danach weiter?
Reiner Heske: Im Dezember 2012 hatte ich dann auch noch zwei Lungenentzündungen. Ich habe wieder Sauerstoff bekommen, drei bis vier Stunden am Tag inhaliert. Ich konnte ohne Sauerstoff noch nicht mal duschen, sobald ich kein Sauerstoffgerät getragen habe, sind meine Lippen und Finger blau angelaufen. Im Mai 2013 wurde ich dann gelistet und nach drei Wochen wurde mir die Lunge transplantiert. Die Operation hat acht Stunden gedauert, meine Lunge war so verwachsen, dass sie regelrecht rausgeschält werden musste.
„Anfang 2012 hatte ich eine Zyste am Pankreas und es kam zu Komplikationen bei der Operation – ich lag sechs Wochen auf der Intensivstation.“
Lebensritter: Können Sie den Moment beschreiben, als Sie das erste Mal nach der Transplantation mit der neuen Lunge geatmet haben?
Reiner Heske: Das geht leider nicht so, wie man sich das vorstellt – also einfach mal tief einatmen und Luft holen, man hat ja einen Tubus [Anm. Lebensritter: eine Hohlsonde, die bei der Beatmung hilft]. Das Lustige war, dass ich im Aufwachraum die Ärztin gesehen habe, bei der ich wegen meiner Mukoviszidose in Behandlung war. Das hat mich in diesem Moment unheimlich gefreut. Ich habe ihr auf einen Zettel geschrieben, dass sie mir den Schlauch entfernen soll. Als der aber weg war, habe ich mich nicht getraut, richtig durchzuatmen. Das konnte sowieso nicht klappen – mein Oberkörper hatte sich über die Jahre versteift, und wenn man tief einatmen will, fühlt es sich an, als wäre ein Gurt um die Brust gespannt.
Lebensritter: Wie sieht Ihr Alltag heute aus?
Reiner Heske: Eigentlich relativ normal, würde ich sagen. Ich arbeite vier Tage im Monat, denn nur mit meiner Rente wäre es sehr eng. Ich nehme Immunsuppressiva gegen die Abstoßung des neuen Organs, muss deswegen mit der Sonne vorsichtig sein, weil ich ein erhöhtes Krebsrisiko aufgrund der Medikamente habe, und noch ein paar Dinge. Aber das sind alles Kleinigkeiten, die sich im Alltag leicht umsetzen lassen. Mein Vater benötigt Pflege, im Garten muss einiges getan werden, mein alter Opel Kadett braucht Reparaturen. Ich bin in der Selbsthilfegruppe Mukoviszidose Oberberg. Meine Mutter ist Gründerin des Vereins, zusammen mit einer anderen Mutter hier aus dem Dorf. 1996 war das. Es gibt 96 Mitglieder, davon 22 Betroffene
Und dann natürlich der Sport. Ich möchte etwas zurückgeben, ich habe so viel geschenkt bekommen. Ich will Menschen durch meinen Sport erreichen. Und das funktioniert auch: Letztes Jahr nach meinem Marathon war ich zwei Tage in der BILD, das haben viele Menschen gelesen. Außerdem trage ich beim Laufen immer ein T-Shirt mit der Aufschrift „Organspende rettet Leben“, das mittlerweile auch schon von den Läufern und Zuschauern wiedererkannt wird. Beim Amrumer Mukoviszidose-Lauf lasse ich mich übers Internet sponsern. Das Geld geht dann an den Veranstalter, die Regio Amrum des Mukoviszidose e. V., die es der Rehaklinik spendet, unter anderem für Therapiegeräte, Ausbildung, Physiotherapeuten oder auch Kuren auf Gran Canaria.
„Ich möchte etwas zurückgeben, ich habe so viel geschenkt bekommen. Ich will Menschen durch meinen Sport erreichen.“
Lebensritter: Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es so viele Vorbehalte gegen Organspende gibt?
Reiner Heske: Die zurückliegenden Skandale sind sicherlich ein Grund für weniger Spenden. Deshalb versuche ich ja auch, mit meiner Lebensgeschichte zu überzeugen. Die Menschen sollen sich mit dem Thema Organspende einfach mal auseinandersetzen und sich dann eine Meinung bilden – es kann schließlich jeden treffen. Es ist aber auch eine ethische Frage und ich kann jeden verstehen, der das nicht möchte. Auf der anderen Seite sollte sich jeder die Frage stellen, ob er ein Organ annehmen würde, wenn er zum Beispiel durch einen Autounfall in die Situation käme, selbst eine Organspende zu benötigen.
Ich lebe jetzt schon fünf Jahre mit meiner neuen Lunge und bin sehr dankbar. So eine Spenderlunge hält in der Regel zehn Jahre. Die ersten fünf Jahre sind sehr schnell umgegangen, ich muss mal sehen, wie es später weitergeht, denn ab 60 Jahre werden Lungen seltener transplantiert. Ich sage immer im Spaß, dass ich wahrscheinlich die Lunge von einem kenianischen Langstreckenläufer bekommen habe. Mir ist aber egal, von wem sie ist. Wenn ich ins Ziel einlaufe, blicke ich immer in den Himmel und denke, mein Spender sitzt da oben vielleicht auf einer Wolke und schaut mir zu. Ich spüre meine Lunge jeden Tag. Es zieht noch ein bisschen, mein Brustkorb ist immer noch ein wenig steif. Aber das ist nicht schlimm – es erinnert mich an die schlechten Zeiten, und daran erinnere ich mich gerne, weil ich dann die guten noch mehr genießen und schätzen kann.
„Die Menschen sollen sich mit dem Thema Organspende einfach mal auseinandersetzen und sich dann eine Meinung bilden – es kann schließlich jeden treffen.“