Marius Schaefer hat als erster Mensch in Deutschland eine Lebendlungenspende erhalten. Wir haben mit dem 20-Jährigen über Mukoviszidose, Koma, Instagram und vieles mehr gesprochen. Und weil das Wetter passte, konnten wir mit ihm ein Interview draußen an der frischen Luft führen.
„Es ist so, als würde man durch einen Strohhalm atmen.“
Lebensritter: Herr Schaefer, Sie leiden seit Ihrer Geburt an Mukoviszidose. Wie kann man sich als Außenstehender ein Leben mit der chronischen Stoffwechselkrankheit vorstellen?
Marius Schaefer: Bei mir war ja hauptsächlich die Lunge betroffen, deshalb litt ich ständig unter Atemnot. Es ist so, als würde man durch einen Strohhalm atmen. Man ist auch sehr schlapp, nach drei Stufen auf der Treppe musste ich erstmal stehen bleiben und wieder durchatmen. Die Diagnose wurde gestellt, als ich gerade mal anderthalb Jahre alt war.
Trotz allem hatte ich eine schöne Kindheit, ich habe tolle Freunde und die besten Klassenkameraden und habe trotz aller Einschränkungen viel machen können – von Klassenfahrten bis Partys. Grundsätzlich ist die Einstellung wichtig. Die Krankheit hat in unserer Familie immer nur den Raum bekommen, den sie unbedingt gebraucht hat, keinen Zentimeter mehr. Wir haben immer versucht, ein normales Leben zu führen, mit allen Aktivitäten, die dazugehören. Man muss flexibel sein – ich habe schon Infusionen in der Gondel auf der Skipiste erhalten und Physiotherapie im Kofferraum.
Lebensritter: Aber irgendwann verschlechterte sich Ihr Zustand?
Marius Schaefer: Ja, Anfang 2012 wurde ich bei Eurotransplant auf die Warteliste gesetzt und habe die Wartezeit auf ein neues Organ auf der Kinderintensivstation in Bochum verbracht. Schließlich musste ich mit dem Hubschrauber in die Medizinische Hochschule Hannover auf die Kinderintensivstation Station 67 gebracht werden, weil es mir immer schlimmer ging. Nach 10 Tagen ging es wieder zurück nach Bochum, ein paar Tage später wieder zurück nach Hannover. Dort wurde ich dann an eine Herz-Lungen-Maschine (ECMO) angeschlossen und ins künstliche Koma versetzt. Nur die Maschinen hielten mich noch am Leben.
Lebensritter: Merkt man eigentlich im Koma etwas?
Marius Schaefer: Ich kann nur für mich sprechen und muss sagen, es ging mir total gut. Ich war in einer Welt mit ganz viel Eiskrem, es gab tolle Fußball- und Tennisplätze, ich hatte eine schöne Zeit und fühlte mich total glücklich.
Lebensritter: Auf den Anruf, dass eine Lunge für Sie gefunden wurde, warten Sie ja noch heute …
Marius Schaefer: Ja, mir ist wirklich die Zeit davongerannt. Mir ging es so schlecht, dass man mich von der Liste schon wieder gestrichen hatte. Ich kann auch nicht sagen, woran es gelegen hat, aber es wurde kein passendes Organ gefunden. Vielleicht lag es an meiner Blutgruppe. Oder an meiner damaligen Größe von nur 1,30 Metern. Oder schlicht und ergreifend am Organmangel. Ich weiß es nicht. Wir hatten in der Wartezeit ein extra Telefon nur für die Organspende. Es hat einmal geklingelt, meiner Mutter ist vor lauter Aufregung die Pizza vom Tisch gefallen. Und was war’s? Verwählt! Ausgerechnet bei dieser lebenswichtigen Nummer!
„Ich weiß so viel über Organspende, ich musste einfach an die Öffentlichkeit.“
Lebensritter: Sie sind der erste Mensch in Deutschland, der eine Lebendlungenspende bekommen hat …
Marius Schaefer: Ja, ich trage einen Lungenlappen von meiner Mutter auf der rechten Seite und einen Lungenlappen von meinem Vater auf der linken Seite unter meinem Herzen. Meine Eltern haben sich schon lange im Vorfeld über eine solche Lebendspende informiert, haben recherchiert, was in anderen Ländern gemacht wird, und relativ früh entschieden, mir im Notfall zu spenden, schon vor meiner Listung. Denn es ist ja so, dass heutzutage täglich drei Menschen sterben, während sie auf ein Organ warten. Meine Eltern haben mir das Leben gerettet.
Auf die Frage, ob ich das Gefühl hätte, irgendetwas wieder gutzumachen, kann ich nur mit einem klaren Nein antworten. Ich sehe mich in keiner Bringschuld, habe kein schlechtes Gewissen. Wir sind immer sehr offen miteinander umgegangen, haben über alles geredet und uns trotz allem eine sehr positive Lebenseinstellung bewahrt. Außerdem bin ich zumindest mit meiner Mutter quitt, denn bei ihr wurde im Rahmen der Voruntersuchungen ein Herzfehler entdeckt, der behoben werden konnte. Außerdem geht es meinen Eltern gut, sie haben keine gesundheitlichen Einschränkungen durch die Spende.
Lebensritter: Realisiert man das alles, was da so passiert? Sie waren zum Zeitpunkt der Transplantation ja noch sehr jung mit 12 Jahren.
Marius Schaefer: Doch, ich habe das schon alles realisiert. Ich wollte aber auch alles wissen. Ich habe mit meinen Eltern eine Vereinbarung geschlossen – sie sagen mir alles und ich sage auch alles, wenn es mir zum Beispiel nicht so gut geht oder mich etwas bedrückt. Es bringt doch nichts, wenn man einem sagt „Alles in Ordnung“ und merkt genau, dass etwas nicht stimmt, weil Eltern und Ärzte miteinander tuscheln.
„Corona hat natürlich viel durcheinandergewirbelt. Zum Beispiel konnte ich meine Freundin Caroline lange Zeit nicht treffen. Irgendwann haben wir uns dann zum Spazierengehen verabredet.“
Lebensritter: Wie war es nach der Operation?
Marius Schaefer: Obwohl die Operation gut verlief, fühlte ich mich schlecht. Nicht wegen Schmerzen oder so, mein Lebensmut war einfach weg. Meine Muskeln hatten sich abgebaut, ich konnte mich kaum bewegen. Erst als meine Schwester Nele mich besuchen durfte, ging’s wieder aufwärts. Ich hatte mich so gefreut, sie zu sehen! Der Besuch war nicht selbstverständlich, denn ich lag ja noch auf der Kinderintensivstation und Nele war erst sieben Jahre alt. Aber nach der Beratung mit den Ärzten kam zum Glück das Okay. Ich habe wohl übers ganze Gesicht gestrahlt, als ich sie gesehen habe.
Meine Schwester Nele ist jetzt 16. Uns verbindet etwas ganz Besonderes, wir sind beste Freunde. Sie hat ja auch viel durchmachen und immer zurückstecken müssen – wenn zum Beispiel meine Eltern mit mir im Krankenhaus waren. Lustigerweise strahle ich jetzt wohl auch noch, wenn ich von diesem ersten Besuch erzähle. In meinen Vorträgen höre ich das immer wieder.
Lebensritter: Was sind das für Vorträge?
Marius Schaefer: Ich engagiere mich zum Beispiel bei „Junge Helden e. V.“, deren Ziel es ist, Informationen zum Thema Organspende weiterzugeben und gerade junge Menschen in die Lage zu versetzen, eine eigene Entscheidung zu treffen und zu dokumentieren. Ich halte Online-Vorträge in Schulen, erzähle meine Geschichte und habe einen Instagram-Account. Mit meinem Engagement habe ich zirka ein halbes Jahr vor der Debatte über die Widerspruchslösung begonnen – ich weiß so viel über Organspende, ich musste einfach an die Öffentlichkeit. Ich habe Bundestagsabgeordnete angeschrieben, das hat aber nicht viel gebracht. Im Januar 2020 bin ich nach Berlin zur Debatte gefahren. Ich war aber nicht für mich da, ich war stellvertretend für alle Wartenden dort.
„Ich bin glücklich! Ich treibe viel Sport, ich fahre Fahrrad, spiele Tennis, ich liebe die Natur und mein Leben.“
Lebensritter: Haben Sie tatsächlich Annalena Baerbock den Handschlag verweigert?
Marius Schaefer: Nein. Ich saß auf der Zuschauertribüne. Prof. Dr. Claudia Schmidtke, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten, hat meine Geschichte erzählt und auch darauf hingewiesen, dass ich vor Ort sei. Nach der Debatte ist dann das Foto mit Annalena Baerbock entstanden. Darüber kursieren viele Gerüchte im Netz. Es sieht aber nur so aus, als würde ich ihr den Handschlag verweigern. Das stimmt nicht. Ich als Transplantierter gebe grundsätzlich keinem Menschen die Hand. Auch wenn ich mit dem Ergebnis der Abstimmung nicht zufrieden war, bin ich doch gut genug erzogen, um die Regeln der Höflichkeit einzuhalten.
Lebensritter: Wie stehen Sie zur Widerspruchslösung?
Marius Schaefer: Ich finde, jeder kann eine Entscheidung treffen. Entscheidend ist, dass man eine Entscheidung trifft, das ist das Mindeste, das kann man von jedem verlangen. Ich finde es feige, den Angehörigen die Entscheidung aufzubürden und zu sagen: Entscheidet ihr für mich. Wenn man nicht spenden möchte, kann man auf dem Organspendeausweis Nein ankreuzen. Die Entscheidung ist wichtig, dieser Ausweis ist ein Stück Papier, das Leben retten kann. Die Menschen sollen allerdings mit sich im Reinen sein, wenn sie eine Entscheidung getroffen haben. Sie sollen aus Überzeugung ja oder nein sagen. Die Gründe sind Privatsache, das geht keinen was an.
Lebensritter: Warum schieben die Menschen die Entscheidung auf? Ist das typisch deutsch?
Marius Schaefer: Ich glaube tatsächlich, dass es an unserer Mentalität liegt. Wir leiden an Aufschieberitis. Dazu kommt, dass wir uns nicht gerne mit dem eigenen Tod beschäftigen. Dabei bedeutet eine Organspende doch, Leben zu schenken. Das ist eine ganz große Heldentat! Je älter wir werden, desto schwieriger wird’s – fragen Sie mal kleine Kinder, die antworten ganz selbstverständlich: „Wenn ich tot bin, brauche ich meine Organe doch nicht mehr.“
„Instagram spiegelt nicht die reale Welt wider. Aber man kann sehr viele Menschen auf Instagram erreichen.“
Lebensritter: Warum ist selbst bei Instagram Organspende ein Tabu-Thema?
Marius Schaefer: Instagram spiegelt nicht die reale Welt wider. Da ist alles perfekt und schön. Wenn ich Bilder poste, wie ich im Koma liege, zerstöre ich diese perfekte Welt, das will nicht jeder sehen. Außerdem denken viele: Das betrifft mich nicht, warum soll ich ihm folgen? Aber man kann sehr viele Menschen auf Instagram erreichen.
Lebensritter: Sie studieren Lehramt für Sonderpädagogische Förderung mit dem Förderschwerpunkt Sehen – hat Ihre Krankheit eigentlich die Wahl des Studienfachs beeinflusst?
Marius Schaefer: Zunächst einmal – ich sehe mich nicht mehr als krank. Aber ja, meine Krankengeschichte hat mich und die Wahl meines Studienfachs natürlich geprägt. Mein Ziel ist es, Blindenlehrer zu werden. Ich wollte schon immer mit Menschen arbeiten. Und weil ich keinen geradlinigen Lebensweg habe, möchte ich auch keine normalen Schüler – ich möchte besondere Schüler, möchte mit besonderen Menschen arbeiten.
Lebensritter: Wenn Sie nicht krank sind, was sind Sie dann?
Marius Schaefer: Ich bin glücklich! Ich treibe viel Sport, ich fahre Fahrrad, spiele Tennis, ich liebe die Natur und mein Leben.
Lebensritter: Hat sich durch Corona etwas verändert?
Marius Schaefer: Corona hat natürlich viel durcheinandergewirbelt. Zum Beispiel konnte ich meine Freundin Caroline lange Zeit nicht treffen. Irgendwann haben wir uns dann zum Spazierengehen verabredet, haben uns einen drei Meter langen Ast geschnappt und sind mit dem Ding zwischen uns durch den Wald marschiert. Caroline studiert übrigens Medizin. Sie ist momentan Praktikantin auf der Kinderintensivstation in Hannover, da, wo ich auch gelegen hab … so schließt sich der Kreis!
„Ich wollte schon immer mit Menschen arbeiten. Und weil ich keinen geradlinigen Lebensweg habe, möchte mit besonderen Menschen arbeiten.
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