Menschen

Leon Löwenleber

„Meinem Sohn Leon (18 Monate alt) wurde am 20.02.2018 in Hamburg aufgrund eines seltenen Stoffwechseldefektes eine Leber transplantiert. Er ist ein unglaublich starker kleiner Löwe und macht uns wahnsinnig stolz.“ Mit diesen Worten ist die Mutter von Leon an uns Lebensritter herangetreten. Die Geschichte hat uns natürlich neugierig gemacht und wir sind nach Essen gefahren, um Mutter Sherina Sudau, Vater Marco Kurz und ganz besonders Leon mal persönlich kennen zu lernen.

„Er ist ein unglaublich starker kleiner Löwe und macht uns wahnsinnig stolz.“

Lebensritter: Frau Sudau, wenn man Leon so sieht, wie er hier fröhlich durch die Wohnung flitzt, kann man kaum glauben, was alles hinter ihm liegt …

 

Sherina Sudau: Ja, oder? Er hat so viel durchgemacht. Und damit meine ich nicht nur die Transplantation, sondern auch den OTC-Mangel.

 

Lebensritter: Was genau ist ein OTC-Mangel?

 

Sherina Sudau: Ein Harnstoffzyklusdefekt. Und zwar ein angeborener. Dabei wird der Körper mit hochgiftigem Ammoniak überschwemmt und es können vor allem im Gehirn irreparable Schäden entstehen. Je nach Ausprägung des Defektes kann die Krankheit von einer leichten Entwicklungsstörung bis zum Tod führen.

Lebensritter: Wie haben Sie denn überhaupt gemerkt, dass Leon krank ist?

 

Sherina Sudau: Das war nicht zu übersehen – Leon wurde am vierten Tag nach seiner Geburt ganz gelb im Gesicht, er war total apathisch und ist gar nicht mehr wach geworden. Wir sind dann in die Universitätsklinik nach Düsseldorf gefahren. Dort gab es viele Untersuchungen und Blutabnahmen – Leon war so teilnahmslos, dass er selbst das Piksen der Nadel nicht mehr mitbekommen hat. Es ist so viel passiert in diesen Stunden, ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern, das ist alles wie im Film abgelaufen, ich habe eigentlich nichts mitbekommen.

 

Marco Kurz: Seine Körpertemperatur lag nur noch bei 34 Grad Celsius. Ich musste mein T-Shirt ausziehen und Leon an meiner nackten Brust wärmen, zusätzlich gab es noch Wärmelampen … Uns wurde dann gesagt, dass Leon unter einer Vergiftung leide und deshalb auch so lethargisch sei. Er hatte einen Ammoniak-Wert von 750, der Normalwert bei Kindern in diesem Alter liegt bei unter 100. Jungs sind schwerer betroffen als Mädchen und die Ärzte meinten, wenn der Ammoniak-Wert nicht rasch fiele, würde Leon aufhören zu atmen. Da wurde uns der Boden unter den Füßen weggerissen. Nach einem Gentest und gefühlten 5000 Untersuchungen hatten wir dann nach vier Tagen die Diagnose, warum das alles passiert ist – OTC-Mangel.

„Ich musste mein T-Shirt ausziehen und Leon an meiner nackten Brust wärmen.“

Lebensritter: Wie kann man sich einen Alltag mit OTC-Mangel vorstellen?

 

Sherina Sudau: Das kann man eigentlich gar nicht beschreiben, das muss man selbst erlebt haben. Wir waren oft im Krankenhaus, weil jeder Infekt oder jede Erkältung wegen der Stoffwechselkrankheit gefährlich ist. Alle sechs Stunden musste Leon Medikamente nehmen. Wir mussten eine strenge eiweißarme Diät leben, bei der jedes Gramm Eiweiß gezählt werden musste. Leon durfte nie zu viel zu sich nehmen aber auch nicht zu wenig, da dies zu schweren Folgen führen kann, unter anderem könnte das schwere Gehirnschäden nach sich ziehen. Unsere Familie hat uns unterstützt, wo es nur ging, jeder hat mitgelitten und geholfen. Wenn sie uns Leon mal für ein paar Stunden abgenommen haben, ist das ja nicht wie bei einem normalen Kind: Er brauchte alle sechs Stunden seine Medikamente, die richtige Ernährung – Leons Leben hing davon ab, dass er das richtige Essen bekam.

 

Marco Kurz: Mein Vater war zum Beispiel mit Leon spazieren und wollte Leon eine Birne geben. Dann kam der Anruf: Darf er Birnen essen? Da ist ja auch Eiweiß drin. Und wenn ja, wie viel Gramm darf er? Und das nicht so Pi mal Daumen, sondern genau abgewogen. Auch wenn Freunde gesagt haben, wir haben ihm Schokolade gegeben, mussten wir genau wissen, wie viel Gramm – die Angabe „ein halber Riegel“ hat nicht gereicht … Jetzt darf er Schokolade essen, so viel er will.

Lebensritter: Wie kam das Thema Transplantation auf?

 

Sherina Sudau: Eine Ärztin im Uniklinikum Düsseldorf hat uns von der Möglichkeit einer Organspende erzählt und dass man durch eine Lebertransplantation sozusagen den Gendefekt ausschalten könne. Da war Leon sechs Monate alt. Ich war so überwältigt, ich habe total geheult. Ich habe sie dann gefragt, ob sie mir den Kontakt zu einer Betroffenen vermitteln könne. Ich habe mich mit der Mutter eines vierjährigen Kindes getroffen, das Ähnliches erlebt hat – und schon während des Gesprächs wurde mir klar, dass das ein Weg ist. Denn fast alles ist besser als ein Leben mit OTC-Mangel. Wir haben dann mit den Ärzten über die Lebertransplantation gesprochen. Leons Unterlagen wurden nach Hamburg geschickt und alles in die Wege geleitet.

 

Marco Kurz: Wir hatten tausend Fragen im Kopf. Nicht nur zur Transplantation selbst, sondern auch die Sachen drum herum: Was ist, wenn eine Leber gefunden wird und wir nicht erreichbar sind? Dann wird man wohl von der Polizei gesucht. Oder was ist, wenn das Auto kaputt geht und wir nicht nach Hamburg fahren können? Dann kommt übrigens ein Hubschrauber …

„Eine Ärztin im Uniklinikum Düsseldorf hat uns von der Möglichkeit einer Organspende erzählt … Ich war so überwältigt, ich habe total geheult.“

Lebensritter: Wie man an Leon sehen kann, ist alles gut gegangen, oder?

 

Sherina Sudau: Ja, er kam bei Eurotransplant auf die Liste und hat nach vier Wochen den HU-Status [Anm. Lebensritter: High Urgency (sehr dringlich)] erhalten. 61 Tage später fand die Transplantation statt. Wir haben zwei Leber-Angebote bekommen, die leider nicht in Frage kamen – die erste hatte Risse, die zweite war zu groß und ließ sich nicht teilen. Zwischendurch litt Leon auch noch am Norovirus, so dass eine Transplantation nicht in Frage kam. Die dritte Leber war dann perfekt. Die Operation verlief gut, es gab keine Komplikationen. Am 20. Februar haben wir ihn morgens im Operationssaal abgeben – ich durfte sogar noch mit zur Narkose, ich hatte Leon auf dem Arm, bis er eingeschlafen war – und abends gegen 19:00 Uhr haben wir ihn auf der Intensivstation wiedergesehen. Mir sind 1000 Steine vom Herzen gefallen. Als ich ihn auf der Intensivstation das erste Mal nach der Transplantation gesehen habe, war ich erst mal erleichtert. Er wurde beatmet, der Bauch war noch offen und er hat entsetzlich geweint. Das war ein schlimmer Moment, ich konnte ihm ja nicht helfen. Aber die Leber hat sofort gearbeitet. Nach zwölf Tagen wurde er auf die normale Kinderstation verlegt und ich durfte 24 Stunden bei ihm sein. Ab diesen Tag ging es nur aufwärts. Er hat sich ziemlich schnell stabilisiert und turnte im Bett herum. Das Schönste war, dass wir endlich wieder kuscheln durften. Das Uniklinikum in Hamburg war toll, die Ärzte haben sich sehr viel Zeit für uns genommen. Und auch die Schwestern haben uns unterstützt und sogar das Reinigungspersonal – es war alles ganz familiär, ein unglaubliches Miteinander und Verständnis. Wenn Leon zum Beispiel nicht gut drauf war und eine Blutabnahme nicht zwingend notwendig, wurde sie auf den nächsten Tag verschoben.

Lebensritter: Wie sieht der Alltag heute aus – ohne OTC-Mangel, dafür aber mit neuer Leber?

 

Sherina Sudau: Hände desinfizieren, Einkaufswagen desinfizieren, nichts Rohes essen, Immunsuppressiva nehmen – aber das ist nichts im Vergleich zu vorher, jetzt ist es richtiggehend entspannt. Leon war ja schon immer eine totale Frohnatur, offen und aufgeweckt. Wir hatten ein bisschen Angst, dass er nach der Operation nicht mehr derselbe ist, aber das war zum Glück nicht so. Jetzt kann er auf dem Spielplatz mit anderen Kindern spielen – Kontakte knüpfen ist ja extrem wichtig, das durfte er alles früher nicht wegen der Infektionsgefahr. Ab August ist er sogar im Vater-Kind-Turnverein angemeldet, darauf freut Leon sich sehr und Papa natürlich auch. Leon ist hart im Nehmen, wenn er sich zum Beispiel mal stößt oder hinfällt. Andere Kinder würden vielleicht weinen – Leon nicht. Als wenn er wüsste, dass er schon viel Schlimmeres durchgemacht hat und eine Beule nicht der Rede wert ist. Wir sind sehr froh, dass es die Spende gab. Leon könnte sonst auch schon tot sein. Ich bin jeden Tag dankbar. Es sind die vielen kleinen Momente: wenn ich Leon beim Spielen zuschaue oder beim Einschlafen.

“ Jetzt kann er auf dem Spielplatz mit anderen Kindern spielen – Kontakte knüpfen ist ja extrem wichtig, das durfte er alles früher nicht wegen der Infektionsgefahr.“

Lebensritter: Wenn Sie die Wahl hätten – würden Sie wieder so handeln?

 

Sherina Sudau: Ich bereue diese Entscheidung keine einzige Minute und würde für Leon immer und immer wieder so entscheiden. Er war schon immer ein unheimlich freundliches, aufgeschlossenes und lebhaftes Kind, aber wenn er sich heute schlapp lacht, berührt es mich ganz anders als vorher. Es ist ein tolles Beispiel, wie eine Transplantation ablaufen kann.

 

Marco Kurz: Leider wird immer noch zu wenig getan, um das Bewusstsein der Menschen gegenüber diesem Thema zu schärfen. Ich habe meinen Ausweis immer dabei und rede offen im Freundes- und Kollegenkreis über Organspende. Aber warum kann man das Thema nicht zum Beispiel in der Schule in Biologie behandeln? Oder auch in der Fahrschule? Dann würden vielleicht viel mehr Menschen darüber nachdenken …

„Ich bereue diese Entscheidung keine einzige Minute und würde für Leon immer und immer wieder so entscheiden.“

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