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Läuft, Rock ’n’ Roll, mir geht’s gut – über das bunte Poloshirt und zwei Herzen

Andreas Rathsack ist ein waschechter Hamburger, den es von der Waterkant nach Willich verschlagen hat. Er ist seiner großen Liebe Siggi gefolgt und hat mit ihrer Unterstützung den größten Kampf seines Lebens gewonnen – die Transplantation eines Spenderherzens. Warum sein eigenes Herz versagt hat, die erste Transplantation nicht geklappt hat und wie er sein Leben heute meistert, hat er uns bei einem Gespräch im herbstlichen Garten erzählt.

Lebensritter: Herr Rathsack, was war mit Ihrem Herzen los? Wie und wann haben Sie gemerkt, dass etwas nicht stimmt?

 

Andreas Rathsack: Das erste Mal im Januar 2020. Das war eine Woche vor dem Corona-Ausbruch. Ich habe auf einmal keine Luft mehr bekommen, hatte sogar Probleme, die Treppen hochzugehen. Mit Luftmangel, Schwäche und Unwohlsein bin ich zum Arzt gegangen und wurde mit der Diagnose Influenza beziehungsweise Grippe nach Hause geschickt. In den nächsten drei Wochen hat sich nichts verändert, die Symptome sind gleich geblieben. Zum Glück hat meine Freundin Siggi einen anderen Arzt konsultiert und mich dahin geschickt. Der hat Blut abgenommen und sich sehr schnell wieder bei mir gemeldet. Seine Worte: „Da stimmt was nicht, bitte sofort ins Krankenhaus!“

„Ich habe auf einmal keine Luft mehr bekommen, hatte sogar Probleme, die Treppen hochzugehen.“

Lebensritter: Und was wurde im Krankenhaus festgestellt?

 

Andreas Rathsack: Ich hatte nur noch 17 Prozent Herzleistung und ein Aneurysma am Herzen, es hatte sich auch ein Blutgerinnsel mit gebildet. In meinem Fall so groß wie ein Überraschungsei. Zudem war mein Herz von Wasser umgeben, es war fünf vor zwölf. Ich bin sofort operiert worden und man hat das Aneurysma entfernt. Die OP lief gut, aber ich lag anschließend zehn Tage im Koma. [Anm. Lebensritter: ein Aneurysma am Herzen ist eine krankhafte Ausbuchtung der Herzwand.]

Lebensritter: Wie ist das, wenn man aus einem Koma aufwacht?

 

Andreas Rathsack: Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich total durstig war. Ich durfte noch nichts trinken, deshalb hat Siggi mir mit einer Zahnbürste Wasser gegeben. Ansonsten weiß ich nicht mehr viel, ich war ja noch im Delirium und es hat einige Zeit gedauert, bis ich wieder bei klarem Verstand gewesen bin. An meine Träume kann ich mich aber noch genau erinnern, die habe ich noch im Kopf – das waren vier ganz böse, die ich gar nicht erzählen will, und ein guter. Der gute war so schön, dass ich ihn der ganzen Welt mitteilen möchte. Also los: Ich liege in meinem Bett, kann nicht einschlafen und schaue nach oben. Von der Decke hängt, direkt über mir, ein riesengroßes Aquarium mit ganz klarem Meerwasser. In dem Aquarium schwimmt ein tibetischer Mönch mit einer weißen Kutte und einem Punkt auf der Stirn. Er bewegt für mich ein weißes Fischernetz mit bunten Regenbogen-Punkten und gibt mir so die nötige Kraft, alles, was vor mir liegt, zu schaffen. Dreimal habe ich den geträumt und konnte immer mit einem Lächeln aufwachen. Ich habe alle meine Träume aufgeschrieben, was ich damit mache, weiß ich noch nicht. Vielleicht veröffentliche ich sie ja als Buch … Der Professor, der mich operiert hat, hätte sie auch gerne in schriftlicher Form für seine Unterlagen. Es gibt wohl viele Menschen, die solche Träume erleben – die Aufzeichnungen sollen für Studien genutzt werden.

„An meine Träume nach dem Koma, kann ich mich noch genau erinnern. Einen schönen habe ich dreimal geträumt und konnte immer mit einem Lächeln aufwachen.“

Lebensritter: Ihr eigenes Herz hatten Sie zu dem Zeitpunkt aber noch?

 

Andreas Rathsack: Ja, ich habe nach der Operation eine Defibrillator-Weste bekommen, die ich Tag und Nacht tragen musste [Anmerkung Lebensritter: Eine Defibrillator-Weste ist ein am Körper getragener Defibrillator]. Später musste der Defibrillator dann doch implantiert werden. Mit einer Herzleistung von 30 Prozent ging es mir eigentlich recht gut. Im Herbst wollten wir mit Freunden an die Mosel fahren. Tja, und dann passierte es: Ich habe gepackt, bin mit der letzten Tasche zum Auto und auf dem Fußweg umgekippt.

Lebensritter: Was ist passiert?

 

Andreas Rathsack: Als ich am Auto stand, ist der Defibrillator angesprungen und hat mich umgehauen. Ich lag benommen auf dem Boden. Zum Glück hatte ich vorher mein schwarzes Polohemd gegen ein neon grünes getauscht, weil ich fand, dass das besser zum Urlaub passt. Ein Auto kam vorbei, die Fahrerin hat mich wahrscheinlich nur wegen meines hellen Shirts bemerkt – es war ja schon dunkel, hätte ich mit einem schwarzen Shirt dagelegen, hätte sie mich vielleicht übersehen. Sie ist ausgestiegen, hat gemerkt, was los war, und den Krankenwagen gerufen. Im Krankenwagen sprang der Defibrillator noch mal an. Im Krankenhaus hat man mich dann stabilisiert. Anfang Dezember kam der Professor in mein Zimmer und sagte: „Essen Sie mal Ihr Brot auf, Herr Rathsack, und dann fahren wir Sie in die Klinik nach Düsseldorf. Wir sind hier mit unseren Therapien am Ende, wir machen keine Herztransplantationen.“

Lebensritter: Und dann haben Sie ein neues Herz bekommen?

 

Andreas Rathsack: In Düsseldorf in der Klinik bin ich sofort gelistet worden. Ich hatte nur noch 18 Prozent Herzleistung. Und jetzt kommt’s: Das erste Herzangebot kam am 2.12.2021. Um 10.30 Uhr war ich im OP, die wollten mir gerade die Narkose setzen, da kam der Professor und sagte: „Herr Rathsack, Jung von der Waterkant, wir haben gerade das Herz noch mal übergeprüft, dieses bekommen Sie heute nicht. Sie müssen noch warten. Wir bringen Sie jetzt wieder nach oben.“ Das war natürlich ein Schock für mich. Aber schon in der Nacht vom 3. auf den 4.12.2021 habe ich ein zweites Angebot bekommen. Ich erinnere mich noch daran, dass der Professor zu mir sagte: „Herr Rathsack, ich habe Ihnen doch versprochen, dass Sie noch vor Weihnachten ein neues Herz bekommen.“ In dieser Nacht hat alles geklappt und ich habe glücklicherweise ein Spenderherz bekommen. Dafür werde ich mein Leben lang dankbar sein.

„In dieser Nacht hat alles geklappt und ich habe glücklicherweise ein Spenderherz bekommen. Dafür werde ich mein Leben lang dankbar sein.“

Lebensritter: Was Sie erzählen, klingt so positiv – hatten Sie denn auch Ängste und Sorgen?

 

Andreas Rathsack: Natürlich, ich habe Todesängste gehabt! Ich habe geweint und war verzweifelt, dachte, ich schaff das nicht. Man fühlt sich in so einer Situation zerbrechlich, kann von heute auf morgen in ein Loch fallen – das ist nur menschlich. Ich habe gedacht: Ich bin viel zu jung, um in den Himmel zu gehen, ich will doch noch mit meiner Familie und meinen Freunden was erleben! Und vor allem wollte ich nicht, dass meine Freundin Siggi wieder einen Menschen beerdigt – sie hatte in den letzten Jahren schon fünf Menschen verloren. Ich habe ihr gesagt: „Ich komme wieder, du wirst mich nicht verlieren.“ Und diese Energie habe ich mir bis heute bewahrt. Ich habe begriffen, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Für mich ist es keine Selbstverständlichkeit mehr, dass ich morgens aufwache oder vielleicht 87 Jahre alt werde wie mein Opa. Man lebt intensiver, wenn man so was er- und vor allem überlebt hat – egal ob man eine Leber, ein Herz oder eine Niere bekommen hat. Man kann das kaum in Worte fassen, weil es so überwältigend ist, dass man es geschafft hat und dass es tatsächlich immer noch Menschen gibt, die Organe spenden. Ich bin, so lange ich lebe, meinem noch unbekannten Spender dankbar.

Lebensritter: Was meinen Sie mit „noch“ unbekannter Spender?

 

Andreas Rathsack: Man kann versuchen, den Kontakt zur Familie des Organspenders über einen anonymen Dankesbrief aufzubauen. Ich bin geneigt, das zu machen. Vielleicht einfach nur die Informationen geben, dass es mir gut geht, damit die Angehörigen wissen, dass das Herz wunderbar funktioniert und dass ich sehr glücklich und dankbar bin.

Lebensritter: Wie sieht denn Ihr Alltag heute aus?

 

Andreas Rathsack: Ich lebe und strotze vor neuer Lebensenergie. Seit 2,5 Monaten bin ich Rentner, 100 % schwerbehindert, Pflegestufe 3. Ich werde psychisch betreut – einmal im Monat habe ich einen Termin bei einer Therapeutin. Hier kann ich mich aussprechen und über Sachen reden, die mich bedrücken – die ich aber nicht mit meiner Freundin besprechen will, weil ich sie nicht belasten möchte. Das tut mir ganz gut. Mein Immunsystem ist nur noch bei 50 %. Ich friere schneller, muss mit der Sonne aufpassen wegen Hautkrebs – bei 30 °C in Spanien in der Mittagszeit schwimmen gehen geht nicht mehr. Ich muss Tabletten nehmen. Sport kann ich machen, die Kondition ist wieder da. Das ist auch dieses Paradoxe, dieses nicht zu Verstehende: Ich war schon immer sportlich, habe früher auch Fußball gespielt, gesurft, alles Mögliche. Und dann ging bei mir innerhalb einer Woche gar nichts mehr. Warum ist das mir passiert? Ich habe kein Übergewicht, bin kein Raucher, habe höchstens einmal die Woche ein Bierchen getrunken, habe ganz normal gelebt – und dann versagt mein Herz? Das ist für mich immer noch nicht nachvollziehbar. Vielleicht habe ich meinem Körper früher zu viel zugemutet, damals, als Single in Hamburg, keine Tiefschlafphasen, immer unterwegs – ich weiß es nicht.

Lebensritter: Welche Pläne haben Sie?

 

Andreas Rathsack: Ich werde ab nächstem Jahr Menschen im Krankenhaus besuchen, die auf ein Organ warten, um ihnen positive Energie zu schenken. Das mache ich nicht allein, sondern zusammen mit Norbert Longerich, von der Selbsthilfe Organtransplantierter NRW e. V.
Er hat auch mich besucht, das hat mir vor meiner OP viel Energie und positive Gedanken geschenkt. Außerdem schreibe ich alles auf, was ich mit meiner Lebensgefährtin und meiner Familie noch erleben möchte. Diese Ziele will ich auch umsetzen – ich habe schon Pläne gemacht. Ich weiß nicht, ob ich in 5 Jahren noch lebe, ob ich noch 10 Jahre schaffe oder 30. Es gibt Menschen in Deutschland, die leben 28 bis 32 Jahre mit einem Spenderherz. Vielleicht erreiche ich ja ein Alter von 75 – schauen wir mal. Ich bin kein Tagträumer mehr, ich bin realistisch, ich plane und erfülle uns den ein oder anderen Wunsch. Ich möchte leben und erleben. Ich muss nicht mehr mit dem Wohnmobil in den Süden fahren, mir reicht die Nordsee. Ich freu mich wahnsinnig darauf, einfach am Meer spazieren zu gehen mit meiner Siggi. Ich habe mich jetzt sogar für einen Kitesurf-Kurs auf Sylt angemeldet – bis Windstärke 4,5 darf ich, hat der Professor gesagt, dann soll ich das Ding fallen lassen.

„Ich werde ab nächstem Jahr Menschen im Krankenhaus besuchen, die auf ein Organ warten, um ihnen positive Energie zu schenken.“

Lebensritter: Beeinflusst eine positive Lebenseinstellung eigentlich die Behandlung?

 

Andreas Rathsack: Ich glaube, die Haltung hat Einfluss auf den Verlauf einer OP. Deshalb kann ich nur jedem raten: Bleibt positiv, glaubt an euch und lasst euch nicht seelisch oder gedanklich unterkriegen. Natürlich braucht man auch ein Quäntchen Glück. Wenn man sich psychisch stabilisiert und positiv bleibt, dann sagt man sich: „Du rockst das jetzt!“ Ob Blinddarm oder Herz – ist doch egal. So habe ich das auch meiner Familie und meinen Freunden verkauft.

Lebensritter: Ist in Ihrer Familie über das Thema Organspende oder Transplantation vor Ihrer Krankheit gesprochen worden?

 

Andreas Rathsack: Bevor ich krank geworden bin, habe ich nicht mal darüber nachgedacht, hatte keinen Organspendeausweis in der Tasche. Aber auch jetzt wird im Freundeskreis eigentlich kaum darüber gesprochen. Wenn man mich fragt, wie es mir geht, sag ich: „Läuft, Rock ’n’ Roll, mir geht’s gut“, und das war’s. Auf der anderen Seite fragen Freunde und Bekannte mich nach Organspendeausweisen. Man muss Menschen darauf hinweisen, dass Organspende ein wichtiges Thema ist, dass ein Organspendeausweis wichtig ist. Es ist auch gar nicht entscheidend, was angekreuzt wird, Hauptsache, da ist ein Kreuz! Man kann „Nein“ sagen oder „Augen nein, Rest ja“ oder natürlich „Ja“. Es ist so wichtig, einen Organspendeausweis bei sich zu tragen. Denn wenn mal der Fall eintreten sollte, wo er benötigt wird, erleichtert er die Kommunikation zwischen Ärzten und Angehörigen ungemein. Sich gar nicht zu äußern ist das Schlimmste, das sollte man nicht machen!

Lebensritter: Was ist Ihnen aus der ganzen Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?

 

Andreas Rathsack: Als ich auf dem OP-Tisch lag, der Professor reinkam und sagte: „Ihr Herz wurde nach Prüfung entsorgt. Sie müssen noch warten.“ Das werde ich nie vergessen. Und dann dieses Glück auf Erden, dass ich 18 Stunden später noch ein Angebot bekommen habe – wahrscheinlich von Gott geschenkt. Sollte vielleicht so sein, vermutlich war ich einfach noch zu jung für da oben.

Lebensritter: Sind Sie gläubig?

 

Andreas Rathsack: Ich bin Christ, bin aber nach meiner Lehre aus der Kirche ausgetreten. Bevor ich das Herz bekommen habe, bin ich ein paarmal zum Gottesdienst in die Kirche vom Düsseldorfer Krankenhaus gegangen, habe Kerzen angemacht und für alles, was da so kommen könnte, gebetet. Ich habe mir seelischen Beistand geholt. Das Schönste war, als die Pastorin, die ich in der Kirche kennengelernt hatte, an meine Tür geklopft und mir zu meiner Operation gratuliert hat. Das war toll, das hat mir sehr viel gebracht. Seitdem glaube ich mehr. Ich schau auch mal in die Bibel, gehe in die Kirche, zünde Kerzen an. Ich fühle mich dadurch besser. Mein Glaube ist wieder stark geworden – und er bleibt.

„Es ist so wichtig, einen Organspendeausweis bei sich zu tragen. Denn wenn mal der Fall eintreten sollte, wo er benötigt wird, erleichtert er die Kommunikation zwischen Ärzten und Angehörigen ungemein.“

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

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