Menschen

Die Verler Herzbuben – zwei Männer, ein Schicksal

Rund 25.000 Bewohner leben in der Stadt Verl, die zum Kreis Gütersloh gehört. Zu ihnen zählen auch Karl-Heinz Bute und Dirk Gerdau. Sie sind Leidensgenossen, leben mit neuen Herzen. Ohne die Krankheit hätten sich ihre Wege wahrscheinlich nie gekreuzt. Ohne Spenderorgane wären sie heute definitiv tot.

Lebensritter: Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?

 

Dirk Gerdau: Das war reiner Zufall, wir saßen beide im Wartezimmer beim Arzt. Ich war schon transplantiert und habe bei Karl-Heinz das typische Herzpumpen-Kabel gesehen. Ich war neugierig, habe gedacht: „Da gibt’s ja noch so einen Exoten wie mich bei uns im Ort“, und ihn einfach angesprochen. Zum Glück, denn es hat sich eine enge Freundschaft entwickelt. Ich hätte ihn gerne schon früher kennengelernt, aber die Ärzte und Schwestern durften mir ja wegen der Schweigepflicht nichts von ihm erzählen.

 

Karl-Heinz Bute: Wir tauschen uns aus und reden über alles Mögliche. Das ist ein schönes Gefühl, weil ja jeder weiß, was der andere durchgemacht hat. Das gilt übrigens ebenso für unsere Frauen, auch sie haben jemanden gefunden, mit dem sie ihre Erfahrungen teilen können. Für die Lebenspartner und Angehörigen ist das ja auch nicht einfach.

„Wir tauschen uns aus und reden über alles Mögliche. Das ist ein schönes Gefühl, weil ja jeder weiß, was der andere durchgemacht hat.“

Lebensritter: Haben Sie irgendwelche Vorerkrankungen gehabt oder gab es Hinweise darauf, dass Sie irgendwann mal ein neues Herz brauchen würden?

 

Karl-Heinz Bute: Nein, die Herzgeschichte kam bei mir völlig überraschend, es gab keine Vorzeichen oder Vorerkrankungen. Ich bin mit Grippesymptomen zum Arzt, ich kam schnell außer Puste – aber nicht so, dass es besorgniserregend war. Beim EKG wurde allerdings eine Herzleistungsschwäche festgestellt. Ich bin ja nicht der Schlankeste, deshalb lautete die Empfehlung: abnehmen und mehr Bewegung. Dass sich mein Zustand mit der Zeit verschlechtern könnte, habe ich erst mal ignoriert. Ich wollte nicht so weit in die Zukunft blicken, sondern die Probleme im Hier und Jetzt angehen. Also habe ich mit Volleyball angefangen und weiter als Lehrer gearbeitet. Bis zum Anfang der Herbstferien, als sich alles geändert hat.

Lebensritter: Was ist passiert?

 

Karl-Heinz Bute: Ich bin morgens nicht aufgestanden. Ich war tatsächlich tot – Herzstillstand! Meine Frau hat sofort mit einer Herzmassage begonnen, dann die Nachbarn gerufen und die haben den Notarzt alarmiert, während meine Frau weitergepumpt hat. Nach 20 Minuten wurde ich ins Leben zurückgeholt. Dank meiner Frau war mein Gehirn nicht unterversorgt und ich bin auf der Intensivstation in Gütersloh „normal“ aufgewacht. Ich habe direkt ein Kreuzworträtsel gemacht, um zu gucken, ob im Kopf noch alles in Ordnung ist.

 

Dirk Gerdau: Auch ich hatte keine Vorerkrankung oder irgendetwas, was darauf hingedeutet hätte, dass ich mal ein neues Herz brauchen würde. 1995 hatte ich einen Herzinfarkt, mit gerade mal 30 Jahren. Warum und wieso, weiß keiner. Ich war beim Sport und als ich später zu Hause war, ging’s mir nicht gut: Ich hatte Rückenschmerzen, Taubheit im linken Arm, kalten Schweiß, Übelkeit – eigentlich die typischen Herzinfarktsymptome, aber da habe ich überhaupt nicht dran gedacht. Irgendwie habe ich es noch geschafft, den Notarzt zu rufen, an den Rest kann ich mich kaum erinnern. Ich hatte einen Vorderwandinfarkt durch eine Thrombose. 1997 kam es dann zu Herzrhythmusstörungen – ich bin ständig umgekippt: in der Stadt, im Pausenraum der Konditorei, wo ich gearbeitet habe. Im Mai 2001 habe ich einen Schrittmacher bekommen. Nach und nach hat sich mein Zustand aber verschlechtert. Mit meiner Tochter herumtoben zum Beispiel, das konnte ich nicht mehr. Das ging so weit, dass ich beim Staubsaugen ohnmächtig geworden bin. Ich lag neben dem Staubsauger und bin durch den Krach wach geworden!

„1995 hatte ich einen Herzinfarkt, mit gerade mal 30 Jahren. Warum und wieso, weiß keiner.“

Lebensritter: Warum wurde eine Transplantation notwendig?

 

Karl-Heinz Bute: Bei mir lautete die Diagnose Herzrhythmusstörungen. Ich habe einen Schrittmacher mit Defibrillator-Funktion bekommen. Gesundheitlich ging es mir eigentlich ganz gut. Aber dann kam der Tag, als ich in der Küche umgekippt bin. Im Krankenhaus hat man meinen Defi ausgelesen und festgestellt, dass ich einen Herzstillstand gehabt hatte. Mein Herz ist insgesamt noch dreimal stehen geblieben. Es ging mir immer schlechter. Ich kam die Treppe zum Schlafzimmer kaum noch rauf. 2013 habe ich mehr Zeit im Krankenhaus verbracht als zu Hause. Ich war so schwach, ich konnte mich noch nicht mal mehr im Bett umdrehen. Dann habe ich ein VAD-System [Anm. Lebensritter: Ein VAD-System ist ein Herzunterstützungssystem, eine mechanische Pumpe, wenn die natürliche Pumpfunktion des Herzens nicht richtig oder nur eingeschränkt funktioniert] bekommen. Das war schon eine Besserung. Aber dann hat meine Herzklappe aufgegeben und es gab keine Alternative mehr. Ich brauchte ein neues Herz. Mit dem Hubschrauber wurde ich ins Herzzentrum nach Bad Oeynhausen geflogen. Das war vielleicht enttäuschend – da fliegt man einmal in seinem Leben mit dem Hubschrauber und kann nichts sehen, weil man ja liegt …

 

Dirk Gerdau: Im Oktober 2008 bekam ich einen neuen Defi mit einem 3-Kammer-System [Anm. Lebensritter: Ein Defibrillator als 3-Kammer-Schrittmacher (CRT) besitzt drei Sonden. Die dritte Sonde wird nötig, wenn die Wände der linken Herzkammer nicht gleichzeitig pumpen oder die rechte und die linke Herzkammer nicht synchron schlagen.]. Trotzdem habe ich immer schlechter Luft gekriegt, mein Körper war ständig unterversorgt mit Sauerstoff – ich bin zeitweise mit blauen Lippen durch die Gegend gelaufen, war kalkweiß im Gesicht und fühlte mich wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Dann kam auch noch die Kündigung wegen Insolvenz. Ich wollte aber arbeiten, ich habe immer gearbeitet. Also habe ich mich beworben und im Sommer 2009 eine neue Stelle angetreten. Für sechs Wochen! Ich habe es rein körperlich einfach nicht geschafft – als Konditor fängt man ja zum Teil um 2 Uhr morgens an, dann den ganzen Tag arbeiten, mir fehlten die Regenerationszeiten, ich brauchte ja mehr als gesunde Menschen. Ich war echt am Ende: Existenzängste, Versagensängste, ich wollte meine Kollegen nicht enttäuschen … Ich musste immer öfter ins Krankenhaus. Die Herzrhythmusstörungen gingen nicht weg. Und wenn dann der Defi ansprang – das war unglaublich schmerzhaft, wie ein Tritt in den Rücken. Am 30.12.2010 hörte der Defi gar nicht mehr auf auszuschlagen und ich bin mit dem Notarzt nach Bad Oeynhausen. Mein Herz hatte nur noch eine Leistung von unter 20 %.

„Ich war so schwach, ich konnte mich noch nicht mal mehr im Bett umdrehen.“

Lebensritter: Wie war die Zeit in der Klinik?

 

Karl-Heinz Bute: Erst mal hieß es natürlich warten. Die Ärzte sagten, es kann bis zu einem halben Jahr dauern, bis das passende Organ gefunden wird. Tja, und dann wartet man eben. Ich habe mich mit ein paar Patienten zusammengetan und wir haben regelmäßig Canasta gespielt. Das war aber nicht so einfach – kaum hatten wir die Runde aufgestellt, war auch schon wieder einer „wegtransplantiert“. Innerhalb von nur vier Wochen haben wir alle ein neues Herz bekommen. In dieser Zeit habe ich auch die Bekanntschaft von Hans J. Schmolke, dem Sprecher der „Selbsthilfe Organtransplantierter NRW“, gemacht, der sich sehr um uns gekümmert hat.

 

Dirk Gerdau: Wir hatten im Krankenhaus einen Pumpentisch, an dem alle Patienten mit ihren Herzpumpen saßen. Der erste Blick morgens ging immer zum Tisch – sind noch alle da? Während der Wartezeit habe ich an einer Studie teilgenommen. Wir mussten Bilder auswählen, die uns besonders gut gefallen. Meine Wahl fiel auf einen Leuchtturm, weil er für mich für Kraft und Sicherheit steht. Das Bild dieses Leuchtturms von Westerheversand hängt jetzt bei uns im Wohnzimmer. Der Leuchtturm ist für uns zum Symbol geworden – wie die Herzen, die hier bei uns in der Wohnung verteilt sind. Am 1. April habe ich ein sogenanntes Angebot für ein Organ erhalten und hatte 30 Minuten Zeit, zu antworten. Ich habe das Angebot natürlich angenommen, wurde vorbereitet und dann hieß es: geht nicht, das Organ hat Herzrhythmusstörungen! Am 13. April habe ich schließlich mein neues Herz bekommen.

„Meine Wahl fiel auf einen Leuchtturm, weil er für mich für Kraft und Sicherheit steht.“

Lebensritter: Wie fühlten Sie sich nach der Transplantation?

 

Karl-Heinz Bute: Das Schönste war eigentlich, dass keine Kabel mehr da waren. Nach der OP ging der erste Griff zur Seite, aber da waren keine mehr! Man weiß ja vor der OP nicht, ob alles klappt und ob man nicht doch wieder mit den Kabeln rauskommt. Es hat sehr gutgetan, dass Hans J. Schmolke da war, der ja schon 25 Jahre mit einem neuen Herzen lebt. Das gibt Hoffnung.

Lebensritter: Wäre es nicht besser gewesen, direkt ein neues Herz zu transplantieren, anstatt erst die ganzen künstlichen Hilfen zu nutzen?

 

Karl-Heinz Bute: Man soll ja nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen und die künstlichen Hilfen haben sich bewährt, sie haben ihre Jobs gemacht. Es war wie auf einer Treppe, jede Stufe war notwendig.

Lebensritter: Wie hat sich Ihr Leben verändert?

 

Dirk Gerdau: Ich bin nach allem, was ich erlebt habe, wesentlich gelassener geworden. Mittlerweile sprechen wir in unserem Freundeskreis auch gar nicht mehr über die Transplantation. Es ist kein Tabu-Thema, aber es ist irgendwie alltäglich geworden – obwohl es natürlich nicht alltäglich ist.

„Ich bin nach allem, was ich erlebt habe, wesentlich gelassener geworden.“

Lebensritter: Wie geht es jetzt weiter, welche Pläne haben Sie?

 

Karl-Heinz Bute: Heute bin ich wieder in der Schule tätig, nicht fest angestellt, sondern so nebenbei. Ich habe eine Technik-AG, ich gebe einen Lötkurs und einen MINT-Kurs – was man halt so macht als Physik- und Mathe-Lehrer.

 

Dirk Gerdau: Im Herbst sind wir beide an der VHS und erzählen unsere Geschichte. Aufklärung ist wichtig, viele Menschen denken ja immer noch, man sei nicht richtig tot, wenn die Organe entnommen werden. Wir möchten aufklären und unsere Geschichte erzählen. Das sollen aber keine Fachvorträge über Hirntoddiagnostik werden. Die Leute sollen einfach wissen, wie gut es uns durch die Spende geht. Und sehen, dass Organspende Leben rettet.

„Die Leute sollen einfach wissen, wie gut es uns durch die Spende geht. Und sehen, dass Organspende Leben rettet.“

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

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