Menschen

Auf der Überholspur – Ricarda gibt Gas

Ricarda Scholl lebt zusammen mit ihrer Mutter in Erwitte. Auf den ersten Blick ist sie eine normale junge Frau. Der zweite Blick zeigt eine Lungentransplantierte, die ihr Leben aktiv gestaltet und noch viele Pläne hat. Wir wollten mehr erfahren und haben sie besucht. Ricarda hat sich extra für unser Interview einen Tag Urlaub genommen, weil sie mit ihrer Geschichte anderen Mut machen und Ängste nehmen möchte.

Lebensritter: Frau Scholl, warum brauchten Sie ein Spenderorgan?

 

Ricarda Scholl: Ich leide seit meiner Geburt an Mukoviszidose, das ist ein Gendefekt. Die Diagnose bekam ich im Alter von drei Jahren. Ich hatte ständig Bauchschmerzen, aber die Ärzte haben das immer abgetan – das sei halt so bei Kleinkindern. Zum Glück war meine Mutter hartnäckig und hat nicht aufgegeben. Mukoviszidose ist eine Stoffwechselkrankheit, bei der die Drüsen im Körper einen Schleim bilden, der die Organe verstopft. Bei mir wurde die Lunge besonders in Mitleidenschaft gezogen.

 

Lebensritter: Wie lebt es sich mit dieser Krankheit?

 

Ricarda Scholl: Meine Kindheit war relativ normal. Ich war im Kindergarten und habe mit Freunden gespielt wie alle anderen auch. Verändert hat sich das erst in der Schule. Ich hatte ziemlich viele Fehlzeiten, weil ich so oft krank war. Ich brauchte ständig Infusionen mit Antibiotikum – die gab es im Krankenhaus – und in der Zeit habe ich natürlich in der Schule gefehlt. Mit 15 Jahren wurde mein Zustand immer schlimmer. Ich bin mit einer Sauerstoffflasche rumgelaufen, musste nachts beatmet werden, hatte nur noch 30 % Lungenfunktion. Ich konnte nicht mehr richtig atmen, es fühlte sich alles so eng an und ich hatte das Gefühl, nur noch oberflächlich Luft holen zu können. Dazu dann der Husten … Schule ging nicht mehr. Es war einfach zu anstrengend. Ich war körperlich nicht mehr in der Lage, den Schulweg auf mich zu nehmen und für sechs oder mehr Stunden zu sitzen. Deshalb habe ich Hausunterricht bekommen. An zwei bis drei Tagen die Woche kam ein Lehrer für je ein bis zwei Stunden zu uns nach Hause. Das war schon anstrengend, weil der Stoff, den die Leute in der Schule in 35 Wochenstunden gelernt haben, mir in sechs Wochenstunden eingetrichtert wurde. Aber es hat Spaß gemacht. Ich habe meinen Hauptschulabschluss gemacht, meinen Realschulabschluss und mein Fachabitur.

„Ich bin mit einer Sauerstoffflasche rumgelaufen, musste nachts beatmet werden, hatte nur noch 30 % Lungenfunktion.“

Lebensritter: Ist Hausunterricht besser?

 

Ricarda Scholl: Wenn ich mich entscheiden könnte, wäre ich lieber in eine normale Schule gegangen, aber die Möglichkeit hatte ich ja nicht. Freundschaften schließen, mit anderen zusammen sein – das war für mich nicht möglich, ich war ziemlich isoliert.

Lebensritter: Wie haben Sie reagiert, als das erste Mal eine Organspende thematisiert wurde?

 

Ricarda Scholl: Man sagte mir, dass ich nur noch wenige Monate zu leben hätte. Da war ich knapp 20 Jahre alt. Mit dem Thema Organspende habe ich mich erst sehr schwergetan. Ich hatte tausend Fragen und Gedanken, die mir durch den Kopf gingen: Ein fremdes Organ in mir, wie fühlt sich das an? Von wem kommt das? Wer war die Person? Gibt es Komplikationen bei der Operation? Irgendwie fand ich das alles sehr befremdlich und es hat mir auch Angst gemacht. Ich habe viel im Internet nachgeschaut, aber da steht eine Menge Blödsinn, das würde ich anderen eigentlich nicht empfehlen. Aber dann bin ich eines morgens aufgewacht, das war Anfang 2014. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, war die Entscheidung gefallen: Ich werde mich listen lassen und ich würde ein Organangebot annehmen. Ich habe dann ein halbes Jahr gewartet – zum Glück zu Hause und nicht im Krankenhaus. Aber ich war rund um die Uhr in Bereitschaft, habe das Handy nie aus der Hand gelegt. Und dann kam der Anruf. Am 26. Juni 2014 habe ich schließlich meine neue Lunge bekommen. Wenn ich anderen Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, einen Tipp geben müsste, würde ich sagen: einfach mutig sein! Macht es! Dann funktioniert es auch.

„Als wäre ein Schalter umgelegt worden, war die Entscheidung gefallen: Ich werde mich listen lassen und ich würde ein Organangebot annehmen.“

Lebensritter: Ist die Operation gut verlaufen oder gab es Komplikationen?

 

Ricarda Scholl: Die
OP und alles hat super geklappt. Ich hatte ja ein perfektes Alter, war
in einem guten Zustand und vorher sogar noch in der Reha. Nein, alles prima. Ich lag drei Wochen im Krankenhaus. Während der Zeit hat meine Mutter im Hotel in der Nähe der Klinik gewohnt und war täglich bei mir. Mir ging es ja gut, ich lag in meinem Zimmer, ganz ohne Schläuche und so, und hatte zum Teil echt Langeweile. Meine Mutter und ich sind dann viel spazieren gegangen. Danach ging es noch für drei Wochen in die Reha.

Lebensritter: Das ist jetzt ein paar Jahre her – wie geht es Ihnen heute?

 

Ricarda Scholl: Sehr gut. Ich mache jetzt eine Online-Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement über das Berufsbildungswerk „Diakovere Annastift Leben und Lernen“. Für mich ist das ideal: Die Ausbildung läuft über drei Jahre, ich stehe mit meinem Ausbilder in Kontakt, wir unterhalten uns via Videokonferenz. Nächsten Monat habe ich meine Zwischenprüfung. Dann kommt mein Ausbilder zu mir nach Hause und ich muss die Prüfung ablegen – während er dabei ist, damit ich nicht spicken kann. Die Ausbildung macht riesig Spaß, besonders der Bereich Personalwesen liegt mir, weil es da um Menschen geht. Meine Abschlussprüfung werde ich im Sommer 2021 machen. Und dann geht es an die Bewerbungen. Während der gesamten Ausbildungszeit absolvieren wir schon Praktika, sodass man in unterschiedliche Unternehmen reinschnuppern darf. Ich genieße das sehr, denn man ist nicht alleine, sondern unter Menschen, unterhält sich und arbeitet mit anderen zusammen. Leider kann ich nicht in Vollzeit arbeiten, das würde ich nicht schaffen, allein schon wegen der ganzen Arzttermine. Aber Teilzeit geht. Am meisten freue ich mich darauf, selbstständig mein Leben zu leben. Mit Arbeit und allem, was dazugehört.

„Während der gesamten Ausbildungszeit absolvieren wir schon Praktika, sodass man in unterschiedliche Unternehmen reinschnuppern darf.“

Lebensritter: Sie sind sehr zielstrebig, oder?

 

Ricarda Scholl: Ja, und ehrgeizig. Vielleicht zu sehr. Ich gehe selten aus, weil ich lieber lerne. Das zahlt sich aber auch aus – von meinen letzten sechs Klausuren waren fünf eine Eins. Ich habe das Gefühl, dass ich besser sein muss als alle anderen, um mich auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen, dass ich durch mein Fachwissen herausstechen muss. Und es macht mir ja auch Spaß, mich richtig in die Materie reinzuknien. Das ist übrigens etwas, was sich durch meine Operation verändert hat – vor der Transplantation waren meine Noten lange nicht so gut wie jetzt!

Lebensritter: Hat die Operation noch mehr verändert?

 

Ricarda Scholl: Ja, einiges. Früher habe ich zum Beispiel gerne Fleisch gegessen, das mag ich jetzt gar nicht mehr. Vor der Transplantation war ich isoliert. Ich habe mich nur in einem kleinen Radius bewegen können, konnte nicht ausgehen und hatte nicht viele Freunde. Und ich war total unsportlich. Ich habe ja kaum Luft gekriegt, deshalb war das überhaupt nichts für mich. Jetzt liebe ich Sport und gehe sogar ins Fitnessstudio. Dort trainiere ich Kraft und Ausdauer – das ist auch gut für die Lunge. Ich finde, man muss etwas tun, schließlich übernimmt man ja eine Verantwortung dem Spender gegenüber, man trägt ihn ja in gewisser Weise weiter. Die Bedenken, die ich vor der Transplantation wegen des Spenderorgans hatte, lösten sich übrigens komplett in Luft auf. Die Lunge war sofort meine. Da war nichts Fremdes, sondern einfach meine eigene Lunge.

„Die Lunge war sofort meine. Da war nichts Fremdes, sondern einfach meine eigene Lunge.“

Lebensritter: Worauf müssen Sie mit Ihrer neuen Lunge achten?

 

Ricarda Scholl: Hygiene ist natürlich wichtig, weil ich Immunsuppressiva nehmen muss. Die unterdrücken mein Immunsystem, damit die Lunge nicht abgestoßen wird. Ohne Immunsystem bin ich natürlich anfälliger. Große Menschansammlungen meide ich. Ich gehe einkaufen wie jeder andere auch, sogar ohne Mundschutz, obwohl das manchmal schon unangenehm ist. Zum Beispiel wenn man an der Kasse in der Schlange steht und die Leute hinter einem husten und immer näher kommen – manche gehen ja richtig auf Kuschelkurs! Kurz nach meiner Transplantation bin ich noch mit Mundschutz rausgegangen. Da hat mich jemand tatsächlich gefragt, ob ich Ebola hätte. Das war schon echt schräg. Ich desinfiziere mir die Hände, wenn ich von draußen reinkomme und beispielsweise den Griff vom Einkaufswagen angefasst habe, aber das ist ja fast schon normal heute. Ernährungstechnisch muss ich auf rohes Fleisch verzichten – das macht mir gar nichts aus, ich esse Fleisch ja sowieso nicht mehr so gerne. Obst muss ich schälen, aber das ist ja nicht dramatisch. Ich bin gerne draußen, muss nur mit der Sonne aufpassen. Ich bin ja sowieso schon ein heller Typ und jetzt noch die Medikamente …

Lebensritter: Nehmen Sie Hilfe in Anspruch?

 

Ricarda Scholl: Alle vier Wochen gehe ich mit meiner Mutter zusammen zu einer Selbsthilfegruppe. Das bringt uns beiden etwas – ich kann mich über medizinische Themen oder auch ganz banale Alltagsthemen austauschen und meine Mutter sich mit den Angehörigen. Das ist wichtig. Deshalb würde ich Transplantierten auf jeden Fall empfehlen, zu einer Selbsthilfegruppe zu gehen und Hilfe anzunehmen. Man fühlt sich verstanden, weil die anderen ja Ähnliches durchgemacht haben und wissen, wovon sie reden. Familie und Freunde sind oft zu gefühlsbetont, als dass sie einem einen ehrlichen Rat geben könnten.

Lebensritter: Wie sieht Ihr Alltag aus?

 

Ricarda Scholl: Meine Ausbildung steht natürlich an erster Stelle. Ich fahre mit dem E-Bike durch die Gegend. Auch etwas, was ich mit meiner alten Lunge nicht konnte. Jetzt fahre ich den anderen davon, heute bin ich die treibende Kraft. Das Beste ist, dass ich die Freiheit habe, alles machen zu können. Ich fühle mich wieder dazugehörig, nicht mehr so isoliert. Ich könnte am Wochenende feiern gehen, aber ich möchte lieber lernen und gute Noten schreiben, das ist mir im Moment wichtiger.

Lebensritter: Haben Sie Ziele? Wo möchten Sie in zehn Jahren stehen?

 

Ricarda Scholl: Ich will in meinem Job arbeiten, zufrieden sein und so normal und selbstständig wie nur möglich leben.

„Jetzt fahre ich den anderen davon, heute bin ich die treibende Kraft.“

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

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