Fundstücke

„Wenn wir den Turm sahen, wussten wir zur MHH ist es nicht mehr weit.“

Christiana Meyer und ihr Sohn Marius leben beide mit einer Spenderleber. Aufgrund einer genetisch bedingten Erkrankung war Marius‘ Leber bereits mit ca. sechs Monaten so schwer geschädigt, dass er auf eine lebensnotwendige Transplantation angewiesen war. 20 Jahre später ereilte Mutter Christiana ein ähnliches Schicksal. Über die Geschichte der beiden und wie es ihnen heute geht, berichtet Mutter Christiana.

Lebensritter: Stellen Sie sich bitte kurz vor.

 

Christiana Meyer: Ich bin Christiana, 58 Jahre alt, verheiratet und von Beruf Kriminalbeamtin. Wir leben in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rotenburg/Wümme. Mein Sohn Marius ist 25 Jahre alt, verheiratet und von Beruf Forstwirt und Seilkletterer. Er ist seit Juli 2022 Vater einer gesunden Tochter.

Lebensritter: Weshalb benötigte Marius mit einem halben Jahr eine Spenderleber? Gab es während der Schwangerschaft bzw. direkt nach der Geburt Komplikationen?

 

Christiana Meyer: Meine Schwangerschaft mit Marius verlief nach vier vorherigen Fehlgeburten sehr normal und schön.

 

Nach der Geburt im Juni 1998 stellten die Ärzte am fünften Tag fest, dass Marius ein Stoffwechselproblem hat, welches zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau definiert werden konnte.

 

Kurze Zeit später erhielten wir dann die Diagnose: Alpha-1-Antitrypsin-Mangel, wodurch auch Marius‘ Leber geschädigt wurde.

[Anm. Lebensritter: Ein Alpha-1-Antitrypsin-Mangel ist eine genetisch bedingte Krankheit, die den Enzymhaushalt des menschlichen Körpers betrifft. Sie kann verschieden schwere Schädigungen von Lunge, Bronchien und Leber hervorrufen.]

 

Marius entwickelte dadurch sehr schnell viel Bauchwasser und musste im Stundentakt Medikamente einnehmen. Er schrie ständig. Ein langer, sehr schwerer Weg lag vor uns.

 

Bald erhielten wir Kontakt zur Lebersprechstunde der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und wurden somit früh mit der Möglichkeit einer Transplantation konfrontiert.

Als es Ende November so schlimm wurde, dass das Bauchwasser mehr als drei Liter zugenommen hatte, kam er auf die Warteliste für eine Spenderleber.

 

Am 24.12.1998 kam der erlösende Anruf und am 25.12.1998 wurde er transplantiert.
Seit dieser Zeit geht es ihm gut und er hat eine wunderbare Entwicklung erleben können.

Lebensritter: Wie geht es Ihrem Sohn heute 25 Jahre nach der Transplantation? Wie verlief seine Kindheit/Jugend mit Spenderleber?

 

Christiana Meyer: Meinem Sohn geht es sehr gut! Für ihn ist die Transplantation durch die Medikamente zwar noch vorhanden, aber das Organ ist ganz klar sein Organ und da lässt er auch keine andere Denkweise zu. Er ist gesund. Seine Kindheit und Jugend wurden nur positiv durch die Lebertransplantation (LTX) beeinflusst. Wir haben als Eltern immer gesagt: „Nur die Harten kommen in den Garten.“ Wir haben ihn aufgezogen wie ein normales Kind, d. h. Kindergarten, ein Draußenkind, mit Dreck und allem, was dazu gehört.

 

Wir haben ihm nie eine Glasglocke übergestülpt und das, obwohl uns gesagt wurde, dass er vieles meiden sollte.

 

Wir sind immer mit ihm in den Urlaub gefahren, er hat alles gegessen und getrunken, er war immer ein ganz normaler Junge. Sein Leben fand draußen statt und beim Sport. In der Jugend hat er als Dorfkind auch alles mitgemacht, was es gibt. Neben seiner LTX musste Marius mit einem WPW-Syndrom leben. Dadurch ist er ein weiteres Mal dem Tod von der Schippe gesprungen, ihm wurden im Alter von neun Jahren Leitungsbahnen im Herzen verödet. [Anm. Lebensritter: Das WPW-Syndrom ist eine Herzrhythmusstörung.]

 

„Wenn wir den Turm sahen, wussten wir zur MHH ist es nicht mehr weit. Deshalb war es eine Art Spiel für uns geworden, wer den Turm als erstes sah, gewann.“ Telemax, Funkturm in Hannover

Diese Behandlung musste 2023 wiederholt werden. Marius ist zu einem sehr sozialen, empathischen Mann herangewachsen, der mit seiner Berufswahl einmal mehr gezeigt hat, was in ihm steckt: Als Forstwirt und Seilkletterer hängt er in den höchsten Bäumen und verbringt auch heute noch seine Zeit im Freien und auf Reisen.
Er hat, bis auf Afrika, alle Kontinente bereist und das ohne Probleme.

 

Lebensritter: 2018, also genau 20 Jahre nach der Transplantation Ihres Sohnes, benötigten Sie ebenfalls eine Spenderleber. Was führte dazu und wie lange mussten Sie auf das Organ warten?

 

Christiana Meyer: Erst durch Marius Erkrankung erfuhren wir als Eltern, dass wir beide Träger dieser Genstörung sind und er durch uns beide Bausteine dieser Erkrankung erhalten hatte.

 

Allerdings verlief eine Gesundheitsüberprüfung negativ.

 

Anfang 2018 ging es mir immer schlechter. Ich wurde dicker, schob es aber auf das Alter, die fehlende sportliche Aktivität usw. – wie es eben ist, wenn man versucht, Dinge zu erklären. Ich wurde immer müder, doch auch dafür hatte ich eine Ausrede: zu hoher Blutdruck und deshalb schlecht geschlafen.

 

Mein Dienst fiel mir immer schwerer, aber ich ging nicht zum Arzt. Marius wollte auf Weltreise und ich verschob den Arzttermin auf eine Zeit nach seiner Abreise. Wahrscheinlich ahnte ich schon, dass es mir nicht gut gehen würde, und ich wollte ihm die Reise nicht verderben.

 

Der Arzt stellte neben den schlechten Leberwerten auch viel Bauchwasser fest. Ich kam ins Krankenhaus.

 

Ich hatte eine fortgeschrittene Leberzirrhose, eine Leberschädigung im Endstadium, die natürlich nur mit zu viel Alkoholgenuss in Verbindung gebracht wurde, obwohl ich beteuerte, keinen Alkohol zu trinken und auf unser Stoffwechselproblem hinwies.

Lebensritter: Wie ging es dann weiter?

 

Christiana Meyer: Man verordnete mir Ruhe. Vier Wochen Krankenhaus, damit ich meinen Stress abbauen kann. Danach kam ich zur Kur.

 

Da hatte ich dann endlich eine Ärztin, die mein Problem richtig erkannte. Ich kam nach drei Wochen nach Hause und musste zwei Tage später mit viel Bauchwasser in die MHH.

 

Mir ging es schon so schlecht, dass nur eine Transplantation noch helfen konnte. Ich wurde sofort „high urgent“, also hochdringlich, gelistet. Meinem Mann wurde erklärt, dass ich vielleicht noch 48 Stunden zu leben hätte ohne ein Spenderorgan.

 

Marius kehrte aus Tokio so schnell er konnte zurück, wo er sich gerade aufhielt.

 

Ich hatte sehr viel Glück und musste nur zwölf Stunden auf ein Organ warten. Am 05.12.2018 wurde ich transplantiert.

 

Die Transplantation verlief zuerst nicht gut. Meine Organe waren schon sehr geschädigt, die Blutungen aus den Organen konnten kaum gestoppt werden. Unter der OP erhielt ich 26 Bluttransfusionen, mein Bauch blieb auf und meine Überlebenschance betrug zehn Prozent.

 

Aber ich bin eine Kämpferin mit sehr viel Glück!

 

Ich konnte am 29.12.2018 die Klinik verlassen. Ich hatte enorm viel Gewicht verloren, 50 Kilogramm, war sehr schwach, aber am Leben.

Lebensritter: Wie geht es Ihnen heute, fünf Jahre nach der Transplantation?

 

Christiana Meyer: Mir geht es jetzt, fast fünf Jahre nach der LTX, sehr gut. Ich habe eine ITBL, d.h. eine Stenose an der Nahtstelle in den Gallengängen. Das hatte für mich zur Folge, dass ich bis vor drei Monaten jedes Quartal in die MHH musste und dort eine ERCP gemacht wurde. [Anm. Lebensritter: Die endoskopische retrograde Cholangiopankreatikographie (ERCP) ist ein endoskopisches Verfahren zur Untersuchung der Gallen- und Pankreasgänge.]

Ich bekam Stents in die Gallengänge, damit meine Gallenflüssigkeit abfließen konnte.

 

Ich hatte zwischenzeitlich eine Sepsis und einen Abszess in der Leber, das konnte aber behoben werden. [Anm. Lebensritter: Ein Leberabszess ist eine Eiteransammlung innerhalb der Leber.] Zurzeit bin ich stentfrei und hoffe, dass ich das auch bleibe.

 

Ich bin nicht mehr so belastbar wie früher und zurzeit auch nicht in der Lage, meinen Beruf auszuüben. Die Zeit nach der LTX war sehr schwer für mich und meine Familie, da ich vieles nicht mehr konnte und einfach zu schwach war.

 

Mein Mann war immer eine sehr große Hilfe.
Aber ich lebe recht gut und konnte so die Geburt meines ersten Enkelkindes erleben und verbringe jetzt sehr viel Zeit mit dieser Prinzessin. Ich bin unendlich dankbar!

Lebensritter: Hat das Thema Organspende die Verbindung zwischen Ihnen und Ihrem Sohn besonders beeinflusst?

 

Christiana Meyer: Die Organspende hat meine Verbindung zu meinem Sohn nicht neu beeinflusst, da wir ohnehin ein sehr enges Verhältnis haben. Wir sind eine Einheit. Mir hat es aber noch mal gezeigt, wie dankbar ich darüber sein kann, dass er als Baby nicht mitbekommen hat, wie sehr diese Operation sein Leben veränderte. Er hat sich normal entwickeln können und hat bis heute keine Krankenhausphobie.

 

Lebensritter: Sprechen Sie oft über Organspende?

 

Christiana Meyer: Wir sprechen nicht so oft über das Thema Organspende. Wir sind aber immer noch, unabhängig voneinander, diejenigen, die in jeder Kirche Kerzen aufstellen und die Schutzengel im Himmel grüßen. Damit meinen wir unsere Spender.

 

Unsere Einstellung zum Thema Organspende war schon immer positiv.
In unserer Familie ist es so, dass wir nun drei Personen sind, die mit einem gespendeten Organ weiterleben dürfen bzw. -gelebt haben. Meine Schwiegermutter hat nach langen Jahren an der Dialyse eine Spenderniere erhalten und konnte damit noch ein paar Jahre gut leben.

Lebensritter: Was wünschen Sie sich rund um die Organspende in Deutschland?

 

Christiana Meyer: Was die Organspende in Deutschland betrifft, sind wir der Meinung, dass die zurzeit geltende Entscheidungslösung nicht mehr zeitgemäß ist.

 

Es sollte hier, wie auch in anderen europäischen Ländern, die Widerspruchslösung gelten. Vielleicht führt das den Menschen endlich vor Augen, wie rettend die Organe sind.

 

Lebensritter: Was würden Sie und Ihr Sohn gerne Ihrem Spender/Ihrer Spenderin sagen?

 

Christiana Meyer: Diese Frage kann man nicht so einfach beantworten. Wir sind so dankbar, ich vielleicht noch mehr als mein Sohn, weil mich diese Spenden sozusagen zweimal gerettet haben. Ohne meinen Sohn hätte ich ebenfalls nicht weiterleben können. Unser unendlicher Dank gilt den Familien der Spender, ohne sie wäre es vermutlich nicht dazu gekommen. Mein Sohn hat sein Organ von einem neun Monate alten Spender erhalten; was für ein Leid in dieser Familie zu dieser Zeit herrschte, will ich mir gar nicht vorstellen – und das an Heiligabend. Dieses Kind lebt jetzt ein Stückchen in meinem Sohn und sieht die Welt aus seiner Sicht und das ist eine schöne Vorstellung!

 

Mein Spender hat es mir ermöglicht, mit meinem Mann weiterzuleben und meine Enkelin aufwachsen zu sehen. Auch das ist ein riesiges Geschenk. Hier gilt ebenfalls der Dank den Familien, denn ich kann meine unendliche Liebe weiter an meine Familie geben. Die Spender werden uns in Gedanken immer begleiten und in uns einen Ehrenplatz haben.

 

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

Dann senden Sie uns gerne eine Nachricht an kontakt@lebensritter.de.